Wenn Soziologen träumen

DAS SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH

Der Weg von global geteilten Gefühlen zu einer echten Weltgesellschaft führt nicht über Events

Alles ist wie immer. Die Bettler betteln, die Politiker wandern, die Hedgefonds hecken. Das große Staunen über „uns“ ist vorbei, die Fähnchen verschwinden von den Autos, die Fußballmetaphern aus den Feuilletons und die big screens aus den Biergärten. Nur im Taunus noch sitzt ein Soziologe und denkt nach: über Gefühle, die Nation und die Zukunft.

Der Soziologe gibt Entwarnung: Auch die politisch-korrekten Deutschen könnten nun die alte Angst vor „massenhaft geteilten Gefühlen“ begraben. Sie sei ohnehin immer falsch gewesen, denn „Hitlers perverse Zwecke ... waren von den moralischen Gefühlen des Volkes Lichtjahre entfernt“, ja, es habe einer „gewaltigen Täuschungs-, Verheimlichungs- und Einschüchterungs-Organisation“ bedurft, um die „Kluft zwischen den Phantasien der Nazi-Eliten und der schlichten Moral des Volkes“ zu verdecken. Und die WM habe die „kollektiven Gefühle“ abschließend befreit.

So weit ist das, wenn ich an einige ältere Bekannte denke, verharmlosende Geschichtsklitterung. Aber wie ist es mit den Gefühlen und der Zukunft? Ohne „geteilte Gefühle“, so fährt Karl-Otto Hondrich fort (in der FAZ vom 29. Juli), „könnten wir keines unserer Probleme lösen“, denn: „Gefühlszugehörigkeiten ordnen die soziale Welt zu einem Geflecht von lokalen, nationalen, kulturellen Identitäten.“ Und die große Aufgabe, die vor uns liege, sei die Herstellung einer „Weltgefühlsgemeinschaft“, die 6,5 Milliarden Menschen über all die Regeln, Verträge, Marktbeziehungen hinaus mit einer „stärkeren Macht“ aneinander bindet. Im Spielfest der Weltmeisterschaft hätten wir eine solche „Gefühlsgemeinschaft des Wettbewerbs und des Feierns“ erfahren. Das klingt schön, und nach Schiller: die Stadien der WM als moralische Anstalt, in der wir spielend die Mentalitäten einüben, derer die Welt bedarf.

Das ist für Hondrich keine Feuilletonmetapher. Er schreibt dem globalisierten Fußball real die Aufgabe zu, Katalysator der kommenden Weltgemeinschaft zu werden - weil die Fifa mehr Mitglieder hat als die Vereinten Nationen; und weil Fußball universeller sei als „Pop-Musik, Politik, Menschenrechte, Caritas, Religionen“, deren Gemeinschaften immer an die Grenzen anderer Religionen, politischer Systeme und Kulturen stoßen. Im Fifa-Turnier sei die „zukunftsweisende, auf Nationalstaaten gebaute Weltordnung“ abgebildet. Denn dass der Nationalstaat zerfalle, sei empirisch falsch und „funktional unsinnig“. Gerade die globale Wirtschaft brauche starke Staaten, „die ihre Absatzmärkte und Produktionsstätten sichern“. Staaten brauchen „nationale Gemeinschaftsgefühle“ und diese wiederum „Symbole und Repräsentanten“. Und der globale Fußball produziere alles miteinander: „herausgehobene Individuen“ und „globale Gefühle“.

Hier verlassen wir Karl-Otto Hondrichs Fußball-Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Denn, nimmt man ihn beim Wort, zeigt sie eine schlimme Zukunft: die Weltgesellschaft als Arena, in der nationale Standort-Mannschaften gegeneinander kämpfen, angetrieben von charismatischen Trainern, die ihnen die notwendigen Opfer abverlangen und unfähige oder überflüssige Spieler feuern. Das ist die Lesart, um derentwillen Fußballmetaphern derzeit bei Managern so beliebt sind: „Klinsmann (...) steht wie ein lebendiges Gleichnis und Vorbild für die Heroen, die an der politischen Front (...) gegen den ‚Reformstau‘ anrennen.“

Aber auch die andere Hoffnung, die Hondrich (ganz real) auf den Fußball setzt, ist vergiftet: Das global mediatisierte Spiel sei ein Gefühlsgenerator für die Bewältigung der großen Aufgaben der Menschheit. Ribéry und Zidane dienten, so wie Mutter Theresa und Lady Di, als „Katalysatoren“ einer werdenden Weltgemeinschaft.

Das klingt wie eine Neuauflage des Bildungsbürgertraums, dass aus den Theatern die Parlamente wachsen könnten. Und es ist ein kategorialer Irrtum. Virtuelle Weltgemeinschaften sind schnell herbeimanipuliert und zerfallen schnell; und am Ende aller medial-technokratischen Soziologenträume lauert ein Albtraum: ein planetarisches Rom, zusammengehalten von Raketenmächten und virtuellen AOL-, Allianz- und G-8-Arenen, in denen ein globales Proletariat in einem von gewaltigen Traum- und Täuschungsorganisationen inszenierten Nebel von gefühliger Gemeinsamkeit seinen Pop-, Politik-, Sport- und Wirtschaftseliten zujubelt.

Dass ein globaler, von einer Handvoll Medienkonzerne besessener Gefühlsgenerator weltweite Wettbewerbe zur Reduktion von CO2-Emissionen, Arbeitslosigkeit oder Hunger organisiert – das ist unvorstellbar, Ted Turner hat es bewiesen. Planetarische Medienevents sind nicht das Instrument für das ungeheuerliche Projekt, vor dem unser Denken immer wieder verzagt und das wir, aus zwingender Erkenntnis, doch nicht aus unserem Aufgabenbuch streichen können: die Kapitalbombe zu entschärfen, das Weltbürgerrecht zu sichern, die Rohstoffe der Erde, Wasser und Luft gemeinsam zu verwalten. Die globale Gefühlsgemeinschaft, die das erste Foto vom blauen Planeten wecken mochte, ist dünn; von den kommerziellen Mächten der Welt angerichtet, wäre sie ein Wechselbad von Speed und Valium fürs Volk. Es stimmt, und Nietzsche ahnte es, dass „Fortschritt“ nur noch möglich ist, wenn eine „bewusste Kultur ... die Erde als Ganzes ökonomisch verwaltet“ und „die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele“ stellt.

Aber der Weg von den globalen Gefühlen, die uns beim Anblick von Weltmeisterschaften, Kriegskinderfotos und abbrechenden Gletschern immer noch packen, hin zu einer „globalen Zivilgesellschaft“ führt nicht über global-kollektive Erlebnisse. Sondern über wirkliche Handlungen an realen Orten.

Die realen nationalen Gefühle der Deutschen, das notiert Hondrich immerhin kurz unter seinem schwärmerischen Globalhorizont, verkörpern sich nüchtern in Institutionen wie „Sozialversicherungen, Umweltschutz, Mitbestimmung, Bildungspolitik“ – und die internationalen gehen einstweilen kaum auf Weltoffenheit. Der Marsch der ebenso patriotischen wie weltoffenen Erlebnisgemeinschaft zur patriotischen Besetzung eben dieser Institutionen wird nicht vom Fernsehen angestimmt, und die Reform der internationalen führt nur über die Parlamente.

Und dennoch: Es lag eine schöne kleine Hoffnung über den Biergärten. Vor den giant screens zeigte sich nicht nur Zuschauerfreude, sondern eine neue Lust am kollektiven Erleben und Kommentieren; und an manchen Orten setzt sich das Gemeinschaftsfernsehen fort. Und, es muss ja nicht immer Fußball sein, aber ein Modell ist er schon: Als Kinder gingen wir nach den großen Spielen auf die Straße und kickten weiter.

Die WM-Stadien als moralische Anstalt, in der wir spielend die Mentalitäten üben, derer die Welt bedarf?

Es gibt viele Orte für Erwachsenenspiele: vor der Allianz-Zentrale, in den Ortsvereinen scheintoter Parteien, den Lidl-Filialen, den Börsensälen. An realen, nicht virtuellen Orten, denn: Vernetzen klärt auf, aber nur das Besetzen realer Orte bringt Bewegung, im Sinne jener „selbständigen Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (wie es so schön bei dem Philosophen aus Trier hieß).

Dumme Hoffnung? Nun ja, der Sommer war sehr heiß, und die Meteorologen sagen, alles gehe jetzt viel schneller.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin.