Die Wiederkehr des Farbverweigerers

Nach hundert Jahren auferstanden: Eugène Carrière, Pionier der Monochromie, der sein „Licht statt Farbe“-Credo vornehmlich an der eigenen Familie erprobte. Ort der Wiederbegegnung ist die Bremer Kunsthalle, die Carrière aller Vergessenheit zum Trotz tapfer sammelte

Für Rodin waren seine Bilder „Fenster, die sich auf das Leben öffnen“, Künstlerkollege Odilon Redon hingegen sah nur „verschwommene Räume“ – in denen, „wie Algen“, „bleiche Gesichter morbider menschlicher Wesen dahintreiben“. Beide bezogen sich auf das Werk von Eugène Carrière, der Zeit seines Lebens – es endete vor genau 100 Jahren – viel diskutiert wurde, dann aber in Vergessenheit geriet. Jetzt versucht sich die Bremer Kunsthalle mit der deutschlandweiten ersten Carrière-Ausstellung seit Jahrzehnten an einer temporären Wiederbelebung.

Unbestreitbar sind Carrières Figuren ziemlich schemenhaft: Fast gespenstisch wirkt die „Frau am Klavier“, geradezu unheimlich das „Schreibende Kind“ mit dem maskenhaften Gesicht, gemalt in der typischen Carrière-Farbe, einem nebulösen Graugrünbraun mit – schaut man sehr genau hin – rosablauen Einsprengseln. „Ich sehe seine Gestalten so, wie ich in den Straßen Londons Gestalten aus fünf Schritten Entfernung im schwarzen englischen Nebel gesehen habe“, schreibt Edmond de Goncourt. Weniger wohlmeinende Kritiker unterstellten Carrière der Einfachheit halber ein Augenleiden, die „Kunstchronik“ schließlich steuerte ein noch schlichteres Erklärungsmodell bei: „Da er kein Geld hatte, um Modelle zu bezahlen und ein regelrechtes Atelier zu mieten, so malte er Frau und Kinder in schlecht beleuchteter Stube.“

Von letzteren hatte Carrière immerhin sechs. Seinen Sohn Jean-René stellt er mit verwischtem Strich als Abbild des Schlafs schlechthin dar, auch Tochter Élise schlummert oft inmitten nahtlos das Bild füllender Haarpracht auf den schummerigen Leinwänden. Was also steckt hinter Carrières Monochromie? Radikale Konzentration. Nicht umsonst nennt die Kunsthalle ihre Ausstellung „Die Intimität der Gefühle“. Carrière ließ alles in der Porträtmalerei sonst übliche Drumherum weg und fixierte sich derart auf die Suche nach einer wie auch immer gearteten „Innerlichkeit“, dass sein Werk schon fast etwas von Minimal Art hat. „Wir wollen mit ihm eine Modernität zu zeigen, die zwischenzeitlich als altmodisch galt“, kommentiert Kuratorin Anne Röver-Kann.

„Zwischenzeitlich“ bezieht sich auf die vergangenen hundert Jahre. Denn abgesehen von einer kurzen Entstaubung Carrières nach dem Zweiten Weltkrieg, als man sich wieder um den Symbolismus bemühte, interessierte sich niemand mehr so recht für den Schattenmaler. Carrières aktuelle Auferweckung vollzieht sich in Bremen, weil hier – in privater Hand – die größte Sammlung außerhalb des Pariser Musée d‘Orsay existiert. Die Kunsthalle selbst besitzt vierzig Druckgraphiken aus dem Nachlass der „Norddeutscher Lloyd“-Dynastie.

Vor allem zu Lebzeiten Carrières rissen sich die Reichen und Berühmten um seine Schwarz-Weiß-Arbeiten, insbesondere, wenn sie selbst auf ihnen verewigt waren. Carrières lithographische Porträts sind auch wirklich eindrucksvoll: Paul Verlaine etwa ist in Carrières „Litographie von zwei Steinen“ ein höchst expressiver Flaschengeist, „Auguste Rodin sculpant“ eine ebenso magisch anmutende Erscheinung. Um die Jahrhundertwende gehörte Carrière mit seinem großen Bewundererkreis zu den Fixsternen der internationalen Kunstszene und hatte Erfolge sowohl im Rahmen der Pariser Weltausstellungen als auch in den avantgardistischen Galerien Europas – gerade weil er sich so konsequent abhob von der Buntheit der Spätimpressionisten und anderer Zeitgenossen.

Genauso beschränkt wie seine Farbauswahl blieb Eugène Carrières Themenspektrum: Mit Ausnahme von zwei, drei Landschaften malte er ausschließlich Porträts. Die Bremer Kunsthalle zeigt sie auf einem ochsenblutigen Friesischrot, einige Ausstellungswände sind auch in schlichtem Grau und Türkis gehalten. Ein dezenter Versuch, der sich hin und wieder einstellenden Tristesse des Gesamtwerkes etwas entgegen zu setzen. Denn: Um deren seinerzeit gelobte „prachtvolle Fleischlichkeit“ beziehungsweise die „wundervoll kecke Kraft des Schwarz und Weiß“ zu erfahren, muss man Bild für Bild durch die Ausstellung tauchen. Anschließend wird einem selbst die taz als Farbmeer erscheinen.

HENNING BLEYL

Eugène Carrière: „Intimität der Gefühle“, bis zum 1. Oktober in der Kunsthalle Bremen. Das umfangreiche Rahmenprogramm ist unter www.kunsthalle-bremen.de abrufbar