Zweite Chance für die Toten

Pedro Almodóvars neuer Film „Volver – Zurückkehren“ ist ein trickreiches Spiel mit Wiederholungen, ein Appell an die rettende Kraft des Kitsches – und eine Eloge auf die Solidarität unter Frauen

VON CRISTINA NORD

Pedro Almodóvar hat keine Angst vor dem Tod. Fast jeder seiner Filme kommt dem Tod nahe, fordert ihn heraus, führt ihn an der Nase herum und lässt die Sphäre der Toten in die der Lebenden übergehen. In „Alles über meine Mutter“ (1999) war es das Herz eines Unfalltoten, das nach einer Transplantation in einem anderen Körper weiterschlug; in „Sprich mit ihr“ (2002) eine Komapatientin, die aus ihrer Erstarrung ins Leben zurückfand, nachdem ein Pfleger sie vergewaltigt und geschwängert hatte. Im jüngsten Film spielt gleich die erste Szene auf einem Friedhof. Auf Schenkelhöhe fährt die Kamera durch ein Arrangement aus Kreuzen und Grabsteinen. Witwen mit im Wind wehenden Schürzen polieren den Marmor und füllen die Blumenvasen mit Steinen, damit sie nicht umkippen. Schließlich macht die Kamera an einer Grabplatte halt. Darauf steht, leinwandfüllend, in blutroten Buchstaben, der Titel des Filmes: „Volver“ („Zurückkehren“).

Bei diesem Vorspiel nimmt es nicht wunder, wenn der Film aus dem Jenseits heraus erzählt zu sein scheint. Eine zentrale Figur kehrt aus dem Totenreich zurück: Irene (Carmen Maura) wurde auf dem Friedhof bestattet – etwa vier Jahre bevor „Volver“ einsetzt. Zu Beginn kann man ihre Fotografie auf einer Grabplatte erkennen; gegen Mitte des Filmes klettert sie mit strähnigem grauen Haar und kleinteilig gemusterter Kittelschürze aus dem Kofferraum eines roten Wagens wie aus einem zu kurzen Sarg. Fortan weiß man nicht recht, mit wem man es zu tun hat: Ist Irene eine Erscheinung, ein Geist? Dem steht entgegen, wie leibhaftig sie ist. Sie furzt und kichert, sie lässt sich die Haare färben und isst Schnitzel mit Appetit. Dass sie nicht auch noch schnarcht, ist alles, was Almodóvar ihr an Totenwürde lässt.

Zwar bietet „Volver“ nach einer Weile eine rationale Erklärung für Irenes Gegenwart an. Trotzdem hält man die Figur für einen Geist – besonders in der letzten Einstellung des Filmes. Mit dem Rücken zur Kamera geht Irene einen Flur entlang. Kurz bevor sich ihre Gestalt in der Tiefe des Bildes verliert, wendet sie sich nach links und verschwindet in einem Treppenaufgang. Währenddessen ist man fest davon überzeugt, einem Gespenst zuzusehen, das sich im Morgengrauen zurückzieht, weil die ersten Sonnenstrahlen es zu Staub zerfallen ließen.

Das Echte und das Falsche sind bei Almodóvar immer schon eine schillernde Allianz eingegangen – eine Allianz, bei der das So-Tun-als-ob meist mehr betört als der Ist-Zustand. Man denke nur an die Szene aus „Schlechte Erziehung“ (2004), in der Gael García Bernal als Dragqueen Záhara auftritt, um so zu tun, als singe er einen Bolero. Záhara trägt ein hautenges, hautfarbenes Paillettenkleid, das die sekundären Geschlechtsmerkmale einer Frau mit Perlen imitiert. Zwischen dem Künstlichen und dem Echten, dem Wahren und dem Falschen entsteht ein Flimmern – in „Schlechte Erziehung“ genauso wie in „Volver“.

Es ist ein infektiöser Kontakt: So wie der Film die Sphäre der Lebenden mit der der Toten infiziert, so mischt er auch das Fantastische mit dem Logischen, das Übersinnliche mit dem Rationalen – und zwar mit dem verblüffenden Resultat, dass man diesen Koexistenzen und Mixturen verfällt, anstatt ihnen zu misstrauen. Almodóvar vereint Tragödie und Komödie, Albernheit und Ernst, und er vereint die aufwändige, in sich verspiegelte Erzählstruktur mit einem einfachen Ziel: der Eloge auf die Solidarität unter Frauen.

Wie sich dieses Neben- und Ineinander gestaltet, zeigt zum Beispiel die Szene, in der sich Irene, die tot geglaubte Mutter, und Raimunda (Penélope Cruz), die Tochter, zum ersten Mal begegnen. Noch weiß Raimunda nicht, ob sie es mit einer Erscheinung oder mit der leibhaftigen Mutter zu tun hat. Als Raimunda am Ende der Szene nach rechts aus dem Bild tritt, wird an der Wand kurz ein Gemälde sichtbar. Es zeigt einen Schmetterling, einen ziemlich kitschigen Schmetterling – und doch: Als Tier der Metamorphose ist dieser Schmetterling wie eine Vignette. Er birgt Raimundas Verwandlung in sich, insofern er ihren Austritt aus einer zutiefst beschädigten Existenz in eine zwar tumultreiche, aber doch lebbare Existenz resümiert (Raimunda, das ahnt man früh, auch wenn es erst gegen Ende des Filmes ausgesprochen wird, ist als Teenager von ihrem Vater vergewaltigt worden).

So kitschig der Schmetterling sein mag, so ist er doch auch ernst gemeint, und das ist bezeichnend für Almodóvars Umgang mit High und Low. Im Kitsch findet er ein Reservoir der Würde. Der Schmetterling ist darüber hinaus bezeichnend für Almodóvars Umgang mit Trauma: Man kann es überwinden, man bekommt sein Leben in den Griff, und wenn einem Kitschbilder, Populärmusik oder Schmalzkringel dabei zur Seite stehen.

Nun heißt „Volver“ nicht nur zurückkehren und meint nicht nur die Heimkehr aus der Großstadt Madrid ins Dorf der Kindheit in La Mancha, die Rückkehr aus dem Reich der Toten in das der Lebenden. Als Hilfsverb verwendet, heißt „volver“ auch, etwas wieder zu tun. Die Wiederholung ist dementsprechend ein wesentlicher Bestandteil von „Volver“. Zunächst einmal, weil auf der Ebene der Familiengeschichte rund um Irene, deren Töchter Raimunda und Sole (Lola Dueñas) und das Enkelkind Paula (Yohana Cobo) einiges zweimal vorkommt: der unnatürliche Tod eines Ehemannes, der Missbrauch der Tochter, die Pflege einer Todkranken – all das wiederholt sich, nur dass beim zweiten Mal die Dinge einen anderen Verlauf nehmen als beim ersten Mal. Ein wenig erinnert das an die Exorzismen eines Alfred Hitchcock. Wer eine Situation bewältigen will, die ihn heimsucht, muss genau diese noch einmal durchleben und darauf vertrauen, dass er deren Ausgang zu seinen Gunsten bestimmen kann.

Zu Wiederholungen kommt es zudem, weil der Film sich in sich selbst und in der Filmgeschichte spiegelt. Dass Carmen Maura zum ersten Mal seit langem wieder in einem Film Almodóvars mitspielt, ist eine Reprise des frühen Oeuvres. In vielen Wendungen und plot points erinnert „Volver“ an „?Qué he hecho yo para merecer esto?“ („Womit habe ich das verdient?“; 1984). Darüber hinaus erweckt Almodóvar die Frauenfiguren des italienischen Kinos der 40er- und 50er-Jahre zu neuem Leben: Penélope Cruz trägt Haare, Dekolleté und Röcke wie Sophia Loren, sie ist genauso drall, proletarisch, vulgär, attraktiv und liebenswert. Einmal wird Luchino Viscontis „Bellissima“ (1951) direkt zitiert, da eine von Almodóvars Figuren den Film im Fernsehen sieht. Der Vater herzt die fünf Jahre alte Tochter am Küchentisch, die Mutter, gespielt von Anna Magnani, steht im Nebenzimmer vor dem Spiegel, sie ist erschöpft von den Mühen des Tages, sie zieht sich um, bürstet sich die Haare, von der Innigkeit zwischen Vater und Tochter bleibt sie ausgeschlossen – eine Innigkeit, die „Volver“ ins Inzestuöse verschiebt. Zugleich knüpft Almódovar an die Story vom Kinderstar an, die Visconti zur Grundlage von „Bellissima“ macht. Auch Raimunda sollte einmal ein Kinderstar werden, da war sie 13, aber wie bei Visconti wurde aus der Sache nichts.

Diese ferne Vergangenheit sorgt für einen der schönsten Augenblicke des Filmes. Raimunda singt während eines Festes die Flamenco-Variante eines Tangos von Carlos Gardel – ebendas Lied, das sie damals bei dem Casting anstimmte und das dem Film seinen Namen gibt, „Volver“: „Volver con la frente marchita / las nieves del tiempo platearon mi sien / sentir que es un soplo la vida / que 20 años no es nada“ – „Zurückkehren mit welker Stirn / der Schnee der Zeit hat meine Schläfe versilbert / Fühlen, dass das Leben nur ein Hauch ist / dass 20 Jahre nichts sind“. Die Zeit verläuft eben nach eigenen, subjektiven Regeln, sie gräbt Falten, versilbert Schläfen, und im nächsten Moment schnurren 20 Jahre zu einem Hauch zusammen. Es ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, wenn Almodóvar in den Fluss seines Films immer wieder Close-ups von kreisrunden Formen und Objekten hineinmontiert, oft aus der direkten Aufsicht, so dass die Kreisform besonders gut zur Geltung kommt. Ein Suppenteller, ein Cocktailglas, ein Plastiknapf mit Haarfarbe, eine Kuchenform mit einem großen Flan. Wieder und wieder rücken die Windräder von La Mancha ins Bild. Kreise, Räder und Drehbewegungen weisen auf ein Zeitverständnis hin, das nicht linear, sondern zyklisch ist.

Zwei dieser runden Formen kommen an einer entscheidenden Stelle als Platzhalter zum Einsatz. Während die 13 Jahre alte Paula von Paco, ihrem Vater, bedrängt wird, sieht man Raimunda bei der Verrichtung ihrer zahlreichen Jobs. Eine Einstellung zeigt eine Waschmaschinentrommel in Betrieb, die nächste das runde rote Gehäuse eines Feuerwehrschlauches, neben dem sich Raimunda einen Augenblick vom Putzen ausruht. Was zwischen Paula und Paco passiert, bleibt offscreen, der Zuschauer weiß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, da es in die nachträgliche Erzählung des Mädchens verlagert wird. Trotzdem suggeriert das Zeichensystem der Kreise und Kreisbewegungen schon vorab, dass etwas geschieht, was schon einmal geschehen ist. Mit dem Unterschied, dass diesmal wie bei Hitchcocks Exorzismen der Missbrauch nicht stattfindet, weil Paula schneller zum Küchenmesser greift, als Paco zudringlich werden kann. Dass sie durch die gleiche Situation geht wie ihre Mutter, die Situation aber neu gestaltet, öffnet auch Raimunda den Weg aus den Loops ihres Lebens. Und wer weiß, vielleicht hatte Almodóvar mit der Nahaufnahme der Waschmaschinentrommel noch etwas anderes im Sinn. Gib in den Kochwaschgang, was dich traumatisiert, und dein Leben geht weiter.

„Volver“. Regie: Pedro Almodóvar. Mit Penélope Cruz, Carmen Maura u. a. Spanien 2006, 120 Min.