Ethno-Blockbuster in Wartestellung

Das Filmfestival in Locarno versteht sich mit seiner Sektion „Open Doors“ als Plattform und Kontaktbörse für Filme aus produktionsschwächeren Ländern. In diesem Jahr liegt der Fokus auf südostasiatischem Kino, das durch den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul bekannt geworden ist

VON ANKE LEWEKE

Zwei junge deutsche Produzenten tun sich mit einem in Holland lebenden palästinensischen Regisseur zusammen und erzählen die Geschichte zweier Selbstmordattentäter. Das Ergebnis: „Paradise Now“, von Hany Abu-Asad, wurde 2006 mit dem Golden Globe für den besten ausländischen Film ausgezeichnet. Entstanden ist der Film unter anderem mit Hilfe des World Cinema Fund der Berlinale. Oder Lucrezia Martel. Nach „La Ciénaga – Der Morast“, ihrem hypnotischen Regiedebüt um einen Familienurlaub in den Bergen, erhielt die junge argentinische Regisseurin ein Stipendium der von Cannes initiierten Cinéfondation, so dass sie in Paris an ihrem zweiten Drehbuch schreiben konnte. Und ohne Robert Redfords „Sundance Institute“, das Regisseure und Drehbuchautoren unterstützt, wären Filme wie Walter Salles’ neorealistisches Werk „Central Station“, das Transsexuellendrama „Boys don't cry“ oder Joshua Marstons Film „Maria full of Grace“ über weibliche Drogenkuriere aus Lateinamerika womöglich nie realisiert worden.

Längst verstehen sich Filmfestivals nicht mehr nur als Abspielstätten, sondern betreiben mit Funds, Workshops und Koproduktionsveranstaltungen ihre eigene Art der filmischen Entwicklungshilfe. Es gilt jene zarten Kinopflanzen zu päppeln, die in ihren produktionsschwachen Herkunftsländern nur spärlich gedeihen. Dabei sind es gerade diese Projekte, die das Kino zum Fenster der Welt werden lassen, auf Festivals für Aufsehen, Irritation, Verstörung sorgen. Mit der Sektion und Produktionsbörse „Open Doors“ betätigt sich das gestern eröffnete Filmfestival von Locarno bereits seit einigen Jahren als Filmheger und -pfleger. Nach Argentinien, Kuba und den Ländern des Maghreb steht hier in diesem Jahr das südostasiatische Kino im Schweinwerferlicht.

Vincenzo Bugno ist der Projektmanager von „Open Doors“. Zwischen letzten Vorbereitungen und der Ankunft der Gäste rast er über die Flure. Elf Projekte aus Indonesien, Malaysia, Singapur und Thailand haben er und die Festivalleitung ausgewählt. Man verstehe sich als Kontaktforum, so Bugno, das Workshops, Round-table- und One-to-one-Gespräche organisiere, bei denen die Filmemacher und Produzenten ihre Ideen, Treatments oder Drehbücher potenziellen Geldgebern aus Europa präsentieren können.

„Leider ist das wirklich ungewöhnliche Filmschaffen dieser Region hierzulande noch fast unbekannt“, erklärt Bugno den diesjährigen Länderschwerpunkt. „Einzelne Regisseure wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul oder Eric Khoo aus Singapur konnten mit ihren Filmen schon auf Festivals auf sich aufmerksam machen, doch da unten braut sich viel mehr zusammen. Man trifft auf eine überwältigende Menge junger Filmemacher, die es drängt, vom Alltag in ihren Ländern zu erzählen.“

Bugno dürfte wissen, wovon er redet. Er organisiert nicht nur die „Open Doors“-Reihe, sondern mit Sonja Heinen auch den World Cinema Fund der Berlinale. Während das Pitching – das Anpreisen der Projekte –, die Gespräche und Geschäfte wie auch auf anderen Festivals hinter verschlossenen Türen stattfinden, kann sich in Locarno allerdings auch der gemeine Kinobesucher die vorherigen Arbeiten der geladenen Regisseure anschauen und eine Ahnung vom Leben in diesen Ländern bekommen.

Wie aber sehen diese Begegnungen aus? Ob in Malaysia oder Singapur, die Figuren der am Lago Maggiore vorgestellten Filme wirken wie bestellt und nicht abgeholt in einer modernen Welt, durch die sie orientierungslos geistern. Es sind nahezu surrealistische Bilder, die der malaysische Regisseur James Lee in „The Beautiful Machine“ für dieses Lebensgefühl der großen Einsamkeit findet. Ein Vater zieht sich eine fratzenhafte Maske auf und schaut völlig regungslos Pornofilme. Für einen jungen Büroangestellten wird der Einkauf im Supermarkt mit seinen unendlichen Warenreihen voller buntverpackter Lebensmittel zum Besuch im Wonderland.

Auch der Held aus dem Film „Perth“ (Singapur, 2004) scheint den Anschluss an seine Umgebung längst verloren zu haben. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und fährt nachts Taxi. Wenn er seine Runden dreht und über die Welt sinniert, erinnert er ein wenig an Robert de Niros misanthropischen Taxi-Driver. Sowohl in „The Beautiful Machine“ als auch in „Perth“ wird die Gewalt immer wieder eruptiv aus den Menschen herausbrechen, staunend schauen sie sich selbst bei ihren Taten zu.

Mögen sich auch Motive und Themen wiederholen, so will Vincenzo Bugno das Filmschaffen in Südostasien nicht über einen Kamm scheren und erst recht keine Tendenzen festmachen. „Dafür sind die Länder viel zu unterschiedlich, jedes hat seine eigenen Geschichten zu erzählen. Thailand ist weitgehend buddhistisch, während in Indonesien und Malaysia der Islam vorherrscht. Man trifft auf völlig verschiedene multiethnische Gruppen und überall spürt man die immer stärker werdende Kluft zwischen Tradition und Moderne. Der Stadtstaat Singapur boomt zum Beispiel derart, dass die Nachbarländer neidisch auf die wirtschaftlichen Erfolge schauen.“

Bei den altvertrauten Schlagworten Tradition und Moderne drängt sich die Frage auf, ob die Auswahl der Filmprojekte nicht von einem westlichen Blick geprägt ist, der letztlich auf geläufige Kategorisierungen und Blickwinkel zurückgreift. Man denkt an die europäischen Koproduktionen mit schwarzafrikanischen Ländern, an Filme, in denen die sozialen Probleme in bunte folkloristische Bilder verpackt wurden. „Natürlich haben wir darauf geachtet, dass die Drehbücher eine kulturelle Identität mit ihren Ländern aufweisen“, sagt Bugno. „Dennoch wollen wir keine pädagogischen Aufklärungsfilme unterstützen. Die Regisseure sind frei in der Wahl ihrer Formen. Wenn sie eine Komödie oder einen großen Publikumsfilm drehen wollen, warum nicht?“ Vielleicht finden die Festivalfonds, Kinokulturförderungen und Produktionshilfen eines Tages tatsächlich ihre schöne Vollendung: mit dem Ethno-Blockbuster von morgen.