Der Milliarden-Deal

„Künftige Lieben“ (2): Immer mehr Deutsche sind angeblich bindungslos und einsam. Tatsächlich ist die ökonomische Macht der Familien ungebrochen – und wird wichtiger

Die Legende von der Kinderarmut unter Akademikern hilft, die Eliten weiter zu subventionierenFinanzstarke Eltern sind viel wichtiger, als die Fiktion von der Chancengleichheit glauben macht

Die Deutschen sehen sich als ein Volk der Singles, der Patchwork-Familien, der einsamen Alten. Sie sehen sich als eine Nation, die tendenziell ausstirbt, weil der Nachwuchs fehlt. Jeder Einzelne, so wirkt es, muss sich nun neue Beziehungen oder eben „künftige Lieben“ organisieren.

Die Deutschen sind derart besessen von ihrer Angst vor Einsamkeit, dass ihnen Offensichtliches entgeht. Es stimmt, dass nicht alle Erwachsenen ein Kind haben – doch jeder Mensch hat Eltern. Das ist zwar schlichte Biologie, aber ökonomisch höchst bedeutsam. Die Familie ist in Deutschland die entscheidende Instanz geblieben, die Vermögen, Chancen und Prestige verteilt. Es gibt die neuen Beziehungsformen, die Barbara Dribbusch (taz vom 24. 7.) beschrieb, aber die uralten Familienbande prägen. Die Herkunft bestimmt die Zukunft des Einzelnen.

Die Macht der Familien wirkt weitgehend im Verborgenen; sie wird zugedröhnt von den herrschenden Diskursen, die eine „demographische Katastrophe“ und ein „vergreisendes“ Deutschland beklagen. Ein Nebeneffekt dieser Angstdebatten: Die Familie erscheint als bedroht, ist daher absolut zu schützen und den normalen politischen Verteilungskämpfen zu entziehen. Die neue Bindungslosigkeit, die so häufig behauptet wird, erzeugt ein Gefühl der absoluten Demokratisierung: Wenn alle einsam sind, sind alle gleich. Subtil wird Armut umgedeutet – sie wird nicht mehr materiell, sondern emotional verstanden. Der Hartz-IV-Empfänger scheint sich vom Millionär kaum zu unterscheiden, wenn beide angeblich erfolglos nach stabilen Beziehungen suchen.

Es wird öffentlich nicht wahrgenommen, welch gigantische Summen innerhalb einiger Familien weitergereicht werden und wie sehr es sich lohnt, finanzstarke Eltern zu haben. Rund 2,5 Billionen Euro werden in Deutschland in den nächsten zehn Jahren vererbt. Diese Transaktionen bleiben jedoch privat; der Staat nimmt jährlich nur etwa 3 Milliarden Euro Erbschaftsteuer ein. Selbst die Vermögensoase Schweiz kassiert bei ihren reichen Erben strenger ab.

Es ist schon kurios, dass in Deutschland sogar die Tabaksteuer weitaus mehr bringt als die Erbschaftsteuer – nämlich rund 14,2 Milliarden Euro jährlich. Beharrlich wird so getan, als wären Nachlässe Bagatellen, die die deutschen Finanzämter nicht zu beschäftigen haben. So großzügig kann nur eine Gesellschaft sein, die am Selbstbild festhalten will, dass allein die „Leistung“ des Einzelnen zähle.

Doch die Fiktion der Chancengleichheit wird von der Statistik ad absurdum geführt: 44 Prozent aller Nachlässe sind weniger als 20.000 Euro wert. Aber 1,5 Prozent aller Erben erhalten mehr als 500.000 Euro. Dabei profitieren ausgerechnet jene, die schon über Vermögen verfügen. „Wer hat, dem wird gegeben“, fasst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zusammen.

Die Spuren finden sich in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung: Inzwischen kontrollieren die reichsten 10 Prozent der Bürger 47 Prozent des deutschen Nettovermögens – umgekehrt verfügt die ärmere Hälfte aller Haushalte noch nicht einmal über 4 Prozent des gesamten Eigentums. Tendenz sinkend.

Nur eine höhere Erbschaftsteuer könnte diesen Trend bremsen. Doch die deutsche Familien-Ideologie ist stärker, wie sich bei der laufenden Reform der Erbschaftsteuer zeigt. Wenn sich Finanzminister Steinbrück durchsetzt, werden jährlich weitere 450 Millionen Euro an reiche Nachkommen verschenkt. Denn künftig sollen Firmenerben keine Steuern zahlen, wenn sie den Betrieb zehn Jahre lang weiterführen und das Unternehmen maximal 100 Millionen Euro wert ist. Begründung: Die Firma soll durch die Erbschaftsteuern nicht in die Pleite getrieben werden. Doch selbst die Handelskammern können keinen Betrieb nennen, der Konkurs anmelden musste, weil die Erbschaftsteuern drückten. Wieder hat es sich für die Eliten ausgezahlt, dass die Deutschen derart überzeugt sind, dass ihre Familien schwächeln.

Diese Legende führt auch bei der Familienförderung zu Kuriositäten. Hartnäckig hält sich das Gerücht, deutsche Familien würden nicht angemessen unterstützt. Tatsächlich weiß niemand, wie viel ausgegeben wird, um Ehe und Nachwuchs zu belohnen. Summiert sich die Familienförderung auf rund 100 Milliarden jährlich, wie die Regierung vermutet? Oder gar 240 Milliarden Euro, wie das Institut für Weltwirtschaft in Kiel errechnet? Und verteilen sich diese Summen auf 145 Maßnahmen (Regierung) oder nur auf rund 100 Förderinstrumente (Kiel)?

Übrig bleibt eine rudimentäre Hitliste der unbestritten größten Posten: Kindergeld und Kinderfreibeträge kosten 36 Milliarden Euro, das Ehegattensplitting weitere knapp 21 Milliarden Euro. Von beiden Maßnahmen profitiert erneut besonders deutlich, wer sowieso schon gut verdient.

Bis Jahresende will die Regierung nun eine Übersicht der Fördermaßnahmen erstellen, um sie erneut zu reformieren. Es wäre erstaunlich, wenn die Eliten nicht begünstigt würden. Die ideologische Vorbereitung läuft bereits; besorgt wird angemerkt, dass Akademikerinnen zu wenig Kinder bekämen. Das ist zwar Quatsch – tatsächlich bleiben nur 23 Prozent aller Hochschulabsolventinnen ohne Nachwuchs, die sich damit kaum von anderen Schichten unterscheiden. Aber die Legende von den aussterbenden Akademikern hält sich zäh, ist sie für die Eliten doch lukrativ, wie sich beim neuen Elterngeld zeigte, das Besserverdienende stärker fördert.

Künftig werden die Familien noch bedeutungsvoller, denn sie garantieren Schutz in einer Zeit, in der die sozialen Sicherungssysteme wegzubrechen drohen. In einer Erhebung des B.A.T.-Freizeitforschungs-Instituts von 2003 gaben 56 Prozent der Befragten an, dass sie ihre eigene Familie als die sicherste Vorsorge betrachten.

Das ist kein leerer Wahn. Die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern sind weitaus besser, als es das Schlagwort vom „Krieg der Generationen“ ahnen lässt. Soziologische Untersuchungen ergaben, dass die allermeisten Erwachsenen nicht weit entfernt von ihren Eltern wohnen. So leben 60 Prozent im gleichen Ort, 80 Prozent sind höchstens eine Stunde Fahrzeit entfernt. 40 Prozent aller Eltern wohnen mit mindestens einem ihrer erwachsenen Kinder unter einem Dach.

In dieses Bild der trauten Familie passt, dass die materielle Solidarität zwischen den Generationen sehr ausgeprägt ist. Die B.A.T.-Erhebung stellte fest, dass die Älteren ihre erwachsenen Kinder umfangreich unterstützen: mit Geld (28 Prozent), Sachmitteln (20 Prozent) und persönlichen Hilfen (20 Prozent). Allerdings muss man sich diese Hilfe leisten können. Arme Familien driften auseinander. „Wo ökonomische Bedürftigkeit herrscht, lockern sich die Generationenbeziehungen“, konstatiert der Soziologe Marc Szydlik. Wieder profitieren jene, die finanzstarke Eltern haben. Die uralten Bindungen lohnen sich in Deutschland, sind Milliarden wert. Das sollte der Diskurs über die „künftigen Lieben“ nicht verschweigen.

ULRIKE HERRMANN