Entwurzelung allerorten

Der bedeutende französische Islamwissenschaftler Olivier Roy beschreibt Fundamentalismus und puritanische Religiosität als „islamischen Weg in den Westen“

VON ROBERT MISIK

Fünf Jahre (und Tonnen analytischer Texte) nach dem 11. September ist der islamische Fundamentalismus letztendlich immer noch ein Ufo – ein unbekanntes fundamentalistisches Objekt. Einerseits wird er als Folge islamischer Tradition erklärt, andererseits wird gern auch die Modernisierungsunfähigkeit der muslimischen Welt ins Treffen geführt.

Ob diese eher mit der „muslimischen Kultur“ oder mehr mit der „islamischen Religion“ zu tun hat, wird selten dazugesagt – so genau wird die Sache dann doch nicht immer genommen. Meist reduziert sich die Analyse ohnehin auf einen Imperativ, nämlich den, dass die Muslime eben endlich modern und westlich werden müssten.

Angesichts dessen kann man die Behauptung des französischen Islamwissenschaftlers Olivier Roy als durchaus originell charakterisieren: Für ihn ist der „Neofundamentalismus“ der Radikalen gerade eine Spielart der Moderne, „der islamische Weg nach Westen“. Individualisierung, Säkularisierung, die Entstehung einer liberalen Theologie liefen, so Roys These, nach den gleichen Mustern ab und hätten die gleichen Antriebe wie Fundamentalismus und Radikalisierung: Allesamt sind sie Folgen der Krise von Tradition und Identität, Ausprägungen von Entwurzelung und Ich-Sucht.

Die Entstehung fundamentalistischer Spielarten im Islam gleiche strukturell ähnlichen Prozessen im Christentum und in den New-Age-Religionen: Die Bedeutung von Religion als kultureller Kitt von traditionellen Gemeinschaften schwindet, Religiosität als die spezifischen Beziehung zwischen dem individuellen Gläubigen und seinem Glauben, als Sinnsuche mithin, gewinnt an Gewicht. Roy: Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts beobachten wir die „Vorherrschaft der Religiosität gegenüber der Religion“. Dies freilich ist als ein ausgeprägt westliches Phänomen zu betrachten.

Gewiss, Verwestlichung in diesem Sinn bedeutet etwas anderes, „als selbst westlich zu werden“, weiß Roy. Und das ist die Ursache einer Vielzahl von Ambivalenzen: allen voran des Paradoxons, den Westen auf westliche Weise abzulehnen, was sich auch in der bunten Vermengung traditioneller und westlicher Kategorien zeigt.

Da wird die islamische Umma beschworen, als „Subjekt“ des „Antiimperialismus“, und dies Subjekt ist meist auch noch ein schweigendes Subjekt: eine imaginäre Gemeinschaft, die der kleinen Gruppe ihre Legitimität verleiht, die vorgibt, in ihrem Namen zu sprechen, ähnlich dem, was das Proletariat einst für die radikale Linke war.

Kenntnisreich argumentiert und veranschaulicht Roy, wie Dekulturation, Verwestlichung und Radikalisierung vor allem bei jungen Muslimen im Westen Hand in Hand gehen – die Folgen von Entwurzelung sind logischerweise besonders ausgeprägt bei einer Religion, deren Anhänger sich als Folge von Migration plötzlich in einer Minderheiten-, ja Outcastposition befinden.

Islamisierung behauptet den Rückgriff auf die Tradition, wendet sich gleichzeitig aber gegen diese Tradition: Träumen die Dschihadisten doch von einem „reinen Islam“, von allen lokalen Kulturen gesäubert und damit losgelöst von jeder spezifischen Kultur. Gerade das ist ja eine Eigenschaft von sich universalisierenden Sekten: Deren Trägerschichten sind Sinnsucher, denen die fixen kulturellen Koordinaten verrutscht sind.

Roy beschreibt, wie der radikale Islam, ähnlich der westlichen Protestkultur, den direkten Appell „an die Jugend“ formuliert, was die traditionellen islamischen Autoritäten delegitimiert. Mangels Klerus und nach dem Verlust dieser Autoritäten ist der Islam nicht mehr länger Sache der ethnisch-kulturellen Community, sondern eines jeden Einzelnen.

Dem entspricht die Betonung des „individuellen Dschihad“, die Idee vom wahren Gläubigen und seiner inneren Reinigung (was frappant an die Wende zum Innerlichen im Zuge der christlichen Reformation erinnert), der Siegeszug des religiösen Autodidakten in radikalislamischen Kreisen und der Kult um äußere popkulturelle Zeichen: Islamisten mit ihren langen, weißen Gewändern, ihren weißen Kappen und ihrem Bart „inszenieren ihr eigenes Ich, häufig bis an die Grenze zum Exhibitionismus“ (Roy). Letzteres lässt sich eher als Import aus dem Amerika des 21. als aus dem Arabien des 6. Jahrhunderts entschlüsseln.

Weniger Tradition als kulturelle Bindungslosigkeit kennzeichnet die radikalen Islamisten. Sie brechen mit ihren Familien und leben meist in der modernen Kernfamilie. Roy schildert es am Beispiel vieler Islamistenkarrieren, etwa wenn er das Register von al-Qaida sichtet: „Omar Khan Sharif, der aus einer pakistanischen Familie stammt, heiratete eine Araberin, Motassadeq eine Russin, Fateh Kamel eine Frau aus Quebec, Djamel Beghal eine Französin, Kamel Daoudi eine Ungarin; Amor Sliti eine Belgierin und Slimane Khalfaoui ebenfalls eine Französin. Daoudi lernte seine ungarische Frau über das Internet kennen; nach drei Jahren reichte sie die Scheidung ein, als er auf einmal von ihr verlangte, sie solle den Schleier tragen. Jarrah lebte mit der Türkin Aysel Senguen zusammen, die er später auch heiratete. Ihre fünf Jahre dauernde turbulente Beziehung (Liebe, Krach, Trennung, Versöhnung, Abtreibung) verlief wie bei vielen modernen Paaren.“

Roys Buch hilft gegen kulturalistische Simplifizierungen jeder Art und gegen den häufigen Gestus der Analyse, der von Herablassung so schwer zu unterscheiden ist, weil er stets die „zurückgebliebene“ Tradition betont und die möglichen Abgründe der Modernität selbst nicht sehen will.

Dass Roys analytische Fähigkeiten und seine denkerische Originalität seine Talente als Sachbuchautor bei weitem übersteigen, macht die Lektüre leider zu einer mühseligen Arbeit. So ist die Kapiteleinteilung eher erratisch, ein innerer Aufbau seiner Studie nur schwer erkennbar.

Das tut freilich nur dem Lesevergnügen, nicht der Intelligenz dieses Werks Abbruch, das uns darauf stößt, dass eine neue Art individueller Religiosität mit radikalen Ausfransungen eine Spielart der Modernisierung ist – im Islam wie im Christentum und Judentum auch. Und dass diese Radikalität etwas mit Dekulturation zu tun hat, nicht mit der Beständigkeit einer ursprünglichen Kultur. Roy: „Fundamentalismus bestätigt auf keinen Fall eine kulturelle Identität.“

Olivier Roy: „Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung“. Aus dem Englischen von Michael Bayer. Pantheon-Verlag, München 2006, 268 Seiten, 12,90 Euro