Das verwöhnte Leben

Während die Wellnessbranche boomt, sinken die Geburtenzahlen. Gibt es da etwa einen Zusammenhang?

Kinder und Wellness vertragen sich nicht. Kinder sind, gedacht in Kategorien der Wellness, kontraproduktiv.Sie sind Figuren der Nachwelt

VON MAXIMILIAN PROBST

Schwindelerregend, die sinkenden Geburtenraten, die Überalterung. Umso schöner, wenn es anderswo bergauf geht: in der Wellnessbranche beispielweise. Endlich einmal keine Talfahrt. Endlich einmal Höhenflug. Seit Jahren 5 bis 6 Prozent Wachstum. Dass noch mehr zu holen sei, sagt jetzt ein amerikanischer Wirtschaftsstar. In dem jüngst auf Deutsch erschienenem Buch „Die nächste Billion“ spricht er gar von der Wellness-Revolution: Das meiste Geld fließe künftig im Geschäft des Wohlbefindens. Unterdessen hat im besten Hamburger Ambiente, zwischen Alsterhaus und dem Hotel Vier Jahreszeiten, das NIVEA Haus eröffnet. Auf drei Etagen bietet es vergleichsweise günstig die ganze Welt der Wellness. Und wurde dafür prompt vom Bürgermeister als Demokratisierungsmaßnahme gefeiert: Wellness fürs Volk.

Aber was, wenn der Boom der Wellness mit dem Doom der Geburtenraten in Zusammenhang stünde, wenn Wellnesswelle und der Verzicht auf Kinder die zwei Seiten derselben Medaille wären? Wenn die Formel dieser Tage lauten müsste: Wellness versus Nachwuchs?

Die Wellnessangebote sind fast so weit wie die Welt selbst. Aryuveda, Bachblütentheraphie, Cleopatra- oder Dampfbad, Eutonie, Feng Shui, Geistheilung, Hydrotherapie, Irisdiagnose, Klangschalen-Massage … Sie richten sich nicht nur an alle, sondern haben auch für jeden etwas ganz Besonderes zu bieten. Wellness will individueller Zuschnitt sein: Wer sich der Heimat verbunden fühlt, hält sich an Bachblüten, wer ein Faible hat fürs Fremde, an Qi Gong.

Gemeinsam ist allen Formen der Wellness, dass sie sich als Therapie ausgeben, die auf ein seelisch-körperliches Gleichgewicht zielt. Schon der Begriff Wellness, eine Legierung aus Wellbeing und Fitness/Happiness, soll diesen ganzheitlichen Ansatz unterstreichen. Was Wellness dann aber als solche bestimmt und abgrenzt von anderen Kulturtechniken des Wohlbefindens, ist dessen Punktualität, zeitlich wie räumlich.

Jedes Wellnessangebot ist geschichts- und ortlos. Shiatsu, Yoga, Aryuveda: Alles wird in eine ideelle Gleichzeitigkeit und Verfügbarkeit gebracht, in der von Tradition nichts weiter bleibt als Hohlform und Bild, Ware und Werbung; schließlich: ein Versprechen. Eines, das sich stets erneuern lässt und dem der Wohl-Wollende, wie wir den Wellnesskonsumenten einfachheitshalber nennen wollen, stets neu Glauben schenken muss.

Auf der Ebene des Einzelnen spiegelt sich die Punktualität in der zeitlichen Kürze: Zwar verkauft sich Wellness als Lebensinhalt, als Ziel. Tatsächlich aber ist es immer eine Pause, ein Unterbrechen, Abschalten. Ferien im Idealfall. Und wenn Ferien unabsehbar fern sind, das kleine Urlaubsgefühl zwischendurch. Dieser eng abgegrenzte Zeitraum wird von allen Wellnessangeboten stillschweigend akzeptiert. Denn er ist deren raison d‘etre. Auf Dauer gestellt, würde jedem die Leere der aufs Hier und Jetzt fixierten Wellness aufgehen. Diese Abhängigkeit von der Arbeitswelt hat indes in der Wellness Tradition, ja, ist vielleicht die einzige Tradition, von der man in diesem Fall überhaupt reden kann: Wellness wurde als Programm eines ganzheitlichen Gesundheitsmodells in den 70er-Jahren auf Betreiben der amerikanischen Regierung entwickelt – um den explodierenden Kosten des Gesundheitssystems entgegenzuwirken. Das ist sein Geburtsmakel: von Anfang an eingeschrieben zu sein in das Kalkül volkswirtschaftlicher Gewinnmaximierung. Was sich dem Einzelnen als individueller Ausweg anpreist, ist staatlich verschriebene Spiritualität.

Wellness wird, seine Kehrseite vor Augen, damit kenntlich als Durchhalteparole des gestressten Individuums: Verständlich ist es nur vor dem Hintergrund von Berufsverkehr, Terminstress, Mobbing und dem Schlangestehen in Supermärkten nach Büroschluss. Man kann darum den Wellnessboom als Gradmesser einer kranken Gesellschaft nehmen. Sinnvoll erscheint eine Aromatherapie nur dann, wenn das Leben abgeschmackt, um nicht zu sagen: geschmacklos ist. Dem ästhetischen Imperativ: Werde, was du bist! war man niemals ferner. An dessen Stelle herrscht nonchalante Selbstaufgabe: Ich will so bleiben, wie ich bin …

Nicht, was der Mensch sein kann, steht im Mittelpunkt der Wellness, sondern was er zur Anpassung an die Verhältnisse aufbieten kann. Der sterbliche Körper und die zu kurz kommende Seele werden in optimierbare Einheiten verwandelt, denen man als Kunde eben technisch nachhelfen kann. „Verwöhnen“ ist deshalb das Ur- oder besser Unwort des Wellnessvokabulars. Es spiegelt dessen notorische Geschichtsvergessenheit, denn etymologisch bedeutet Verwöhnen – als noch erzogen wurde, wusste man darum – Gewöhnung ans Schlechte. Das Gegenteil von Erziehung also.

Von Glück muss man da schon sprechen, dass die Wohl-Wollenden nur selten erziehungsberechtigt sind. Denn Kinder und Wellness vertragen sich nicht. Kinder sind, gedacht in Kategorien der Wellness, kontraproduktiv. Sie sind Figuren der Nachwelt, einer Nachwelt, die mit ihnen immer schon angefangen hat: einer real existierenden, dissonanten Nachwelt, die im krassen Gegensatz steht zu der spinnerten Spiritualität der prästabilierten Wellness-Harmonie. Nachwuchs: das ist auch all das Leid, der Stress, der Streit, den sich der Wohl-Wollende vom Leib halten will – family sucks, sagt sich der. Familie ist zu viel verlangt, wenn man bis morgen wieder fit sein muss. Lieber im Schlammbad sitzen als sich mit Schlamm zu bewerfen.

Selbst wenn dem so wäre: Vergessen wir nicht, dass gerade im Konfliktpotenzial die Größe der Familie ruht. Wo man sich streitet, sagt Goethe, erfährt man voneinander. Und welcher Streit wäre produktiver als einer von Generationen? Auch die Wege der Erfahrung sind seit je beschwerlich: Bloß durch Leiden, heißt es, lerne man. Wellness meint, es geht auch anders: kurz und schmerzlos. Den Patienten kennt Wellness daher nicht, nur den Klienten.

Warum aber dieses Kleben am Hier und Jetzt? Warum die Fixierung auf den Körper, dieser Abschied von der Nachwelt, den die Wellness so mustergültig auf den Punkt bringt? Ein entfesselter Kapitalismus, der fortwährend Kampf und Verformbarkeit verlangt, der seine Subjekte dergestalt zum Verkrampfen treibt, ist nur der offensichtlichste Grund für das Hecheln nach Entspannung. Nachdenklicher stimmt ein anderer. „Hier und Jetzt“ ist lange Zeit die Formel emanzipatorischen und utopischen Denkens gewesen. Die künstlerischen Avantgarden kappten ebenso die Tradition, wie sie die Vorstellung eines Hinausgehens über das Gegenwärtige verwarfen. Der Gedanke liegt damit nahe, Wellness vollziehe, was die Kunst nur träumte. Sollte sich Wellness dergestalt als die Wahrheit avantgardistischer Kunst erweisen, wäre freilich auch deren utopischer Gehalt nicht zu retten. Die Vorstellung etwa, dass Selbstverwirklichung auf breiter gesellschaftlicher Basis möglich sei. Jetzt müsste man sagen, wir wüssten ja, wohin die „Sorge um sich“ führe – in die Wohlseinsmaschine. Klappen wir also dieses Kapitel unserer Geschichte zu.

Das wäre übereilt. Zwar gibt es den Zusammenhang von Avantgarde und einem ästhetisch und lebensphilosophisch aufgeladenen Konzept der Wellness. Er zeugt aber lediglich von der kapitalistischen Logik der Vereinnahmung: Innerhalb und als ein Teil kapitalistischer Verwertungsstrategie – nichts anderes wissen wir bislang – zerschlägt sich die Hoffnung aufs Hier und Jetzt. Auch das übersehen wir so leicht: Wo die Kunst, die Philosophie, die Religion sich aufs Hier und Jetzt berufen, geben sie ein Beispiel, zeigen sie, was der Mensch sein kann: Ihr Hier und Jetzt ist immer – ein Projekt. Im Wellness ist es Programm. Eines, das läuft. Und läuft und läuft.

Selbstverwirklichung heute heißt: nichts wissen wollen von morgen. Wellness und Geburtenrückgang spiegeln das auf gleiche Weise wider. Foucaults „Sorge um Sich“ dagegen wird verständlich erst mit einem Wort von Seneca: „Der Nachwelt Angelegenheit betreibe ich.“ Zu dieser Nachwelt zurückfinden; wieder einen Begriff gewinnen von ihrer Bedeutung, wo man sie schon selbst nicht in den Griff bekommen wird; sie im Hier und Jetzt verankern und am Erreichten, dem Vergangenen bemessen, ist derzeit dringender denn je. Sagen wir’s so: Wert kann nur generiert werden durch den Kurzschluss von Erinnern und Entwerfen. Findet beides nicht statt, kein Erinnern, kein Entwerfen, wird, wo Wert wäre, Ware sein. Das wenigstens hat uns die Wellnesswelle gelehrt.

Hier zeigt sich aber auch, dass Wellness und Geburtenrückgang nur zwei Aspekte des allgemeinen Abschieds von der Nachwelt sind, nicht das Problem selbst, sondern Teil des Problems. Denn der Abschied von der Nachwelt artikuliert sich zugleich in der Transformation von Politik in Verwaltung (wahlweise unter dem Titel: Ende der Utopie oder Sachzwanglogik) und von Kunst in Unterhaltung.

Nicht um mehr Kinder sollte es darum gehen. Sondern um die Verpflichtung, an das Kommende die Schuld zu entrichten, die man dem Vergangenen nicht mehr abtragen kann. Wo auch immer: in der Erziehung, der Kunst oder der Politik. Das Leben hätte dann – wer weiß – den Geschmack, den das Verwöhnaroma immer nur versprechen kann. Und wäre am Ende gar zu genießen.