Ohne Bunker, ohne Zuflucht

Es sind vor allem arabische Israelis, die im Norden unter dem Krieg leiden. Sie fühlen sich von Jerusalem vergessen

AUS NAZARETH SUSANNE KNAUL

Es sind nicht nur Stifte, Malblocks, Klebstoff und buntes Papier, die die Frauen in die Rucksäcke packen. Auch Broschüre mit Tipps, was während und nach einem Raketenangriff zu tun ist, wandern in die Ranzen. „Das sind unsere Stress-Verminderungs-Geschenke“, sagt Nabila Espanioli, Mitte 40, Gründerin und Chefin des Al-Tufula-Zentrums für frühkindliche Erziehung und Frauenarbeit.

1.000 Rucksäcke haben ihre Adressaten schon erreicht, Kinder aus arabischen Dörfern im Norden Israels. Innerhalb kürzester Zeit gelang es Nabila, zunächst über internationale Hilfsorganisationen, Spendengelder aufzutreiben. „Wir haben jetzt viel bessere Rucksäcke gekauft“, sagt sie. 3.000 weitere sollen in den kommenden Tagen verteilt werden. Auch der New Israeli Fund und eine andere jüdische Organisation schickten Geld, Bastelmaterial und Gesellschaftsspiele, nachdem klar war, dass nicht nur Juden vom Krieg in Israel betroffen sind. Allein im arabischen Dorf Majd al-Krum beispielsweise, unweit der jüdischen Stadt Karmiel, sind schon über 50 Katjuschas eingeschlagen.

Auch Sirenen waren kaputt

Nabila Espanioli, selbst Christin, saß im Garten ihrer Eltern, als gleich in den ersten Kriegstagen in gut hundert Meter Entfernung eine Rakete zwei Kinder tötete. Hisbollahchef Nasrallah übernahm sofort die Verantwortung, entschuldigte sich und nannte die beiden Kinder „Märtyrer“. Nabila hält das für Unsinn. „Sie sind Opfer dieses wahnsinnigen Krieges.“ Obwohl die Raketen aus dem Libanon abgegeben wurden, richtet sich ihre Wut wie die der arabischen Israelis zuallererst gegen die eigene Regierung in Jerusalem. In Nazareth gibt es keinen einzigen öffentlichen Bunker.

„Zu Beginn des Krieges funktionierten hier auch die Sirenen nicht“, schimpft die Friedens- und Frauenaktivistin über die „Diskriminierung“ der arabischen Bevölkerung. Nicht die Kommunen, sondern die Ministerien für Verteidigung und Inneres finanzieren die öffentlichen Bunker. In Nazareth haben nur die nach 1992 errichteten Neubauten individuelle Sicherheitsräume, wie es gesetzlich seit dem Golfkrieg vorgeschrieben ist.

Die Psychologin formulierte Arbeitsbögen, die die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern ausfüllen sollen. „Welche Farbe hat Schmerz?“, ist eine der Aufgaben, oder „Was fällt dir zu Angst ein?“. Ziel ist auch die Aufklärung der Eltern. So habe eine Mutter erst nach dem Studium der Broschüre im Rucksack verstanden, warum ihre achtjährige Tochter nachts wieder ins Bett macht. „Noch nie war die Bevölkerung so lang und so intensiv bedroht“, sagt Nabila, die damit rechnet, dass sich „Angstzustände und Traumata noch lange nach dem Krieg bemerkbar machen werden“.

Ein zehnjähriger Junge greift unter demonstrativen Anstrengungen mindestens zehn volle Rucksäcke auf einmal. „Mach langsam Schätzchen“, ruft ihm Nabila zu. In den Gängen des Zentrums ist vor lauter gestapelten Spielkisten und Pappkartons mit Büchern, Heften und Stiften kaum ein Durchkommen. Eigentlich hätten die Kinder aus Nazareth die Ferien in Sommerlagern verbringen sollen. Doch dann hat ihnen der Krieg einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Über drei Wochen dauerte es, bevor erste Alternativen geschaffen wurden. Gestern ist eine Gruppe von tausend 10- bis 13-Jährigen für ein paar Tage zum Zelten nach Tel Aviv fahren. Finanziert wird die Reise durch die Jewish Agency. Mohammed Darawshe, Chef der auf jüdisch-arabische Koexistenz ausgerichteten Abraham-Stiftung und Initiator des Sommerlagers, war überrascht, dass er „kaum Überzeugungsarbeit“ leisten musste. Es sei eine „Sache von Sekunden“ gewesen, bis die „ewish Agency der Finanzierung zugestimmt habe. Seine Erfahrung war aber seit Kriegsbeginn eine andere.

Eine neue Kluft

„Nicht nur der Staat, auch die jüdische Bevölkerung und der gesamte private Sektor haben uns den Rücken zugekehrt.“ Abgesehen von den mangelnden Bunkern seien erst auf Darawshes Initiative hin die über die Medien verbreiteten Verhaltenshinweise bei einem Angriff ins Arabische übersetzt worden. Und im Süden wollten Juden lieber jüdische Flüchtlinge bei sich unterbringen, berichtet Darawshe. „Wenn einer von uns kommen wollte, gab es immer Ausreden.“

Problematisch für die arabischen Israelis ist die prozentuale Verteilung im Land. Während 90 Prozent der arabischen Bevölkerung im Norden lebt und nur 10 im sicheren Süden, ist es bei den Juden umgekehrt. 70 Prozent leben außerhalb der Gefahrenzone. Eine Aufnahme der restlichen 30 Prozent ist deshalb für sie ungleich einfacher. Auch bei Hilfsaktionen von privaten Unternehmen blieben die Araber außen vor. Die Pakete mit Süßigkeiten und Spielzeug wurden an die öffentlichen Bunker geschickt und erreichten so wieder nur jüdische Kinder.

Als „beängstigend“ bezeichnet Darawshe die neue Kluft zwischen Juden und Arabern in Israel. „Wir sind um Jahre zurückgeworfen.“ Darawshe mahnt allerdings auch die eigenen Leute, allen voran die arabischen Knesset-Abgeordneten zur Vorsicht. Kritik an der Regierungspolitik, die als Sympathie mit dem Feind gewertet werden könnte, sei nicht hilfreich.

Hatten die arabischen Abgeordneten ganz zu Beginn der israelischen Offensive noch stillgehalten, so sind nach dem Desaster von Kana, bei dem 28 Zivilisten, mehrheitlich Kinder, ums Leben kamen, die Parlamentssitzungen von heftigen Wortgefechten bestimmt. Mehrere arabische Abgeordnete schimpften diese Woche Verteidigungsminister Amir Peretz einen „Mörder“ und „Kriegsminister“.

Noch sei es nicht zu spät, um den Schaden zu reparieren, meint Darawshe. Wenn in dieser Woche tausend arabische Kinder zum Sommerspaß in Tel Aviv sind, dann, so hofft er, sei das auch ein Signal an die arabische Minderheit: „Hier sind Juden, die uns nicht vergessen haben.“