Kultur der Niederlage

Um die erneute Eskalation der Gewalt im Nahen Osten verstehen zu können, sollte man nach den irrationalen Spuren in der Ideologie des islamistischen Terrorismus suchen

Dieser Nahostkrieg wird enden wie frühere auch: Israel wird nicht von der Landkarte verschwinden

„Der Terrorist hält seine Handlungen für gerechtfertigt, weil sein Volk gekränkt worden ist. Aber könnte es nicht gerade umgekehrt sein? Dass er nämlich deshalb an seinem Gefühl der Kränkung haftet, weil er am zerstörerischen Hass ein gewisses Vergnügen gefunden hat“, schreibt Jonathan Lear in seinem Buch über Siegmund Freud.

Der jetzige Nahostkrieg wird voraussichtlich enden wie die früheren Kriege auch: Israel wird nicht von der Landkarte verschwinden. Die von der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah wiederbelebte Vernichtungsrhetorik, der die Raketen hinterherfliegen, kann den verhassten Judenstaat nicht beseitigen. Israel vernichten zu wollen, ist zwar eine Vorstellung, die im kollektiven Bewusstsein seiner arabischen Nachbarländer tief verwurzelt sein mag und im islamistischen Apokalypseprojekt einen zentralen Raum einnimmt. Aber sie bleibt eine obsessive Fantasie, die an der Wirklichkeit der Region immer wieder abprallt; ein Beleg dafür ist der bizarre Versuch des iranischen Präsidenten, den Antisemitismus zum außenpolitischen Programm zu erheben und ausgerechnet Deutschland für ein Bündnis gegen die „jüdische Weltverschwörung“ zu gewinnen.

Dennoch bestimmt diese wirklichkeitsfremde Vernichtungsidee die Realität im Nahen Osten – nach dem Muster eines fatalen Wiederholungszwangs, in den die Kontrahenten mental verstrickt sind. Israel nimmt die existenzielle Bedrohung, die bereits einer Bereitschaft zu Verhandlung, Ausgleich und Kompromiss gewichen schien, bitter ernst. Es ist die Erfahrung des Holocausts, aus der das Land die Lehren gezogen und jene bedingungslose Entschlossenheit zur Selbstverteidigung entwickelt hat, die auch seine Neigung zu Alleingängen und Überreaktionen erklärt. Das Land, das den zionistischen Traum von „Judäa und Samaria“ längst ausgeträumt hat, setzt auf Abschreckung, Eindämmung und Grenzsicherung, um seine Existenz zu behaupten. Aber muss man dazu Beirut bombardieren und die Weltöffentlichkeit gegen sich aufbringen? Auf der anderen Seite hatte sich Israel aus dem Libanon längst zurückgezogen, Gaza gegen den erbitterten Widerstand der fundamentalistischen Siedlerbewegung endlich den Palästinensern überlassen und ihnen den größten Teil des Westjordanlands für den ersehnten eigenen Staat angeboten – und erntet nun „Land für Krieg“ statt „Land für Frieden“.

Und wie gehen Hisbollah und Hamas mit ihrer neuen, demokratisch legitimierten Verantwortung um? Statt die historische Chance zu ergreifen und in ihren Ländern den zivilen Aufbau zu betreiben, verharren sie in den Traditionen der Kriegsgesellschaft, um in der Pose von Widerstandsgruppen Israel weiter das Existenzrecht zu bestreiten, es mit Raketenangriffen und Attentaten zu überziehen und schließlich israelische Soldaten zu entführen – in der hoffnungsvollen Erwartung, einen militärischen Gegenangriff zu provozieren und Israel zu nötigen, auf der Westbank zu bleiben (damit nicht auch noch Tel Aviv dem Beschuss ausgesetzt wird). Der terroristischen Logik der Provokation geht es nicht wirklich um Sieg oder Niederlage. Ob man gewinne oder verliere sei für arabische Volkshelden wie Hassan Nasrallah, die Hamasführer oder die namenlosen Selbstmordattentäter nicht entscheidend, schreibt Thomas Friedman in der New York Times. Die Hauptsache sei der emotionale Gewinn: „It’s whether you kill jews.“

Aber gibt es nicht doch reale Gründe, den Konflikt mit Israel zu suchen, etwa die anhaltende Realität des israelischen Besatzungsregimes? Eine gängige Denkfigur zu den vermeintlichen Ursachen des islamistischen Terrors lautet folgendermaßen: Wenn wir nur mehr wüssten über die wirklichen Hintergründe des religiösen Furors, wenn wir nur mehr Kenntnisse hätten über die Vorgeschichte der sozialen Deklassierung, kulturellen Erniedrigung und moralischen Kränkung bestimmter Leute, dann würden wir letzten Endes verstehen können, weshalb sie tun, was sie tun (selbst wenn wir denken, dass es schlechte Motive sind und der Zweck die Mittel nicht heiligt).

Mit dem Hinweis auf diese einfühlende Denkfigur, die dem Terror als „Waffe der Schwachen“ eine bestimmte Vernunft zubilligt und übrigens nicht nur in der westlichen Linken verbreitet ist, sondern sich auch in den Verlautbarungen von al-Qaida findet, eröffnet Jonathan Lear sein Freud-Buch, aus dem ich zu Beginn zitiert habe. Was aber, fragt der amerikanische Sozialphilosoph und Psychoanalytiker, wenn es sich um eine Rationalisierung handelte, hinter der die Unvernunft des Unbewussten am Werk wäre?

Lear dreht den Spieß um. Während es wohl der Wahrheit entspräche, dass der Terrorist mordet, um für etwas Rache zu nehmen, wäre womöglich ebenfalls wahr, dass er an seiner Kränkung festhalte, um mit dem Morden weitermachen zu können. Die Unterstellung eines solchen (unbewussten) Verlangens bedeute für den Terroristen freilich eine weitere Erniedrigung, die ihn umso wütender mache, denn das Gefühl der Erniedrigung wolle er (bewusst) nicht behalten, sondern gerade loswerden. Wenn man ihm ein Bedürfnis unterstelle, sich gekränkt fühlen zu dürfen, erkläre man seine Motive und Verhaltensweisen für irrational.

Nun sei die Irrationalität in diesem Konflikt gewiss nicht einseitig verteilt. Zweifellos habe der Westen Anlass, über die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus nachzudenken, die Folgen damit verbundener Kränkungen anzuerkennen und Wiedergutmachung zu leisten. Dabei setzten wir freilich stillschweigend voraus, dass niemand – keine Gruppe, kein Volk und keine Religion – sich gekränkt und erniedrigt fühlen möchte. Genau diese Voraussetzung sei aber zu bezweifeln.

Terror sei die „Waffe der Schwachen“ – an dieser Denkfigur hängen westliche Linke und al-Qaida

Angesichts der in gewissen Abständen reinszenierten Aufführung einer kollektiven Selbstschädigung gilt dieser Zweifel gewiss für den Nahen Osten. Hinter dem Kalkül des fundamentalistischen Islamismus, als dessen Vollzugsorgane sich terroristische Organisationen wie Hisbollah und Hamas verstehen, muss etwas anderes stehen als der Widerstand gegen die Schmach, die Erniedrigung, die Demütigung der arabisch-islamischen Welt durch Amerika und seinen Vorposten Israel.

Aufgeklärte islamische Intellektuelle sprechen von einer „Kultur der Niederlage“, die in der unbewältigten Geschichte des Islams ihre Tiefenwurzeln hat: im historischen Verlust seiner einstigen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Potenz. Sie fordern ihren Teil der Welt auf, sich endlich den inneren Bedingungen des eigenen Entwicklungsrückstands zuzuwenden, statt ein chronisches Gefühl der Erniedrigung zu pflegen und im projektiven Hass auf die Juden, die Unreinen oder den ungläubigen, mammonistischen, moralisch verderbten Westen zu bewältigen. Das ist viel verlangt, aber unumgänglich, wenn der mörderische Wiederholungszwang gebrochen werden soll.

MARTIN ALTMEYER