Das Zentrum der Welt

Schon wieder ein Romanheld, der dem Normierungsdruck der Gesellschaft widersteht und sich jeder Anpassung verweigert: Evelyn Grills grotesker Roman „Der Sammler“

Vor dem Blick des Sammlers ist alles gleich wertvoll. Er ist ein Demokrat der Dinge. Sein natürlicher Feind ist die Vergänglichkeit. Das macht ihn zum Archivar des Lebens. Er bewahrt alles auf, was andere Leute wegschmeißen würden, und fischt den Abfall aus den Containern, um ihn in seiner Wohnung zu stapeln: alte Jogurtbecher, halb geleerte Fischkonserven und vieles mehr. Selbst die Haare, die ihm reichlich ausfallen, verpackt er in Briefumschläge.

Alfred Irgang, Hauptfigur in Evelyn Grills groteskem Roman „Der Sammler“, ist ein glücklicher Mensch. In seiner stinkenden Wohnung fühlt er sich wohl. Doch für seine Mitmenschen wird er zum pathologischen Fall. Am Stammtisch eines Geschichtsprofessors, der Alfred von klein auf kennt, debattiert man allwöchentlich, wie aus Alfred wieder ein „normaler“ Mensch zu machen wäre. Eine Sozialarbeiterin, ein Wissenschaftler, eine Künstlerin und die Schriftstellerin Dora Stein gehören zu dieser Runde. Stein betrachtet Irgang als Material für einen Roman. Auch sie ist eine Sammlerin, aber von Ereignissen und Beobachtungen.

Das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst ist das zentrale Thema dieses Romans. Irgang selbst spricht von einem „emotionalen und ästhetischen Ordnungsprinzip“, das in seiner Wohnung zur Anwendung kommt. All die Schachteln, der Schmutz und der Schund sind in einem Spannungsverhältnis angeordnet, das sich nur ihm, als dem Zentrum dieser Welt, erschließt. Er fühlt sich den Arbeiten Hanne Darbovens und Christian Boltanskis Installation mit dem Titel „Spurensicherung“ verwandt. Auch sie wollten etwas bewahren, die Zeit anhalten und sich ihrer Geschichte vergewissern. Bei Irgang aber wird daraus eine zwanghafte Lebensweise.

Evelyn Grill hat sich in ihren Romanen und Erzählungen auf skurrile Gestalten spezialisiert, auf Sonderlinge, die den Schutzraum der Literatur brauchen, weil es in der Wirklichkeit keinen Ort für sie gäbe. Jakob Heins Aussteiger „Herr Jensen“ oder Jan Faktors „Schornstein“ sind vergleichbare Figuren in der aktuellen Literaturproduktion. Anscheinend gibt es derzeit einen erhöhten Bedarf an Helden, die dem Normierungsdruck der Gesellschaft wenigstens literarisch widerstehen und sich jeder Anpassung verweigern.

Grill, 1942 in Österreich geboren, erzählt diese tragikomische Geschichte mit dezenter Ironie und kalkulierter Boshaftigkeit. Vielleicht ist „Der Sammler“ für ein Buch, das von sehr schmutzigen Dingen handelt, etwas zu sauber konstruiert. Jede Figur hat ihre genau berechnete Funktion. Die Namen sind sprechend, die Symbolik überdeutlich. Wäre es wirklich nötig, dass die dicke Frau, die Alfred Irgang als einzige neben sich duldet, weil sie ihn nicht belehren will, keine Zunge mehr hat und deshalb stumm ist? Die Wirklichkeit ist leider nicht literarisch, sagt die Schriftstellerin im Roman, und Grill hilft deshalb nach, so gut sie kann. So ist „Der Sammler“ nebenbei auch ein hinterlistiger, unterhaltsamer Roman über das Entstehen von Kunst.

JÖRG MAGENAU

Evelyn Grill: „Der Sammler“. Residenz, Salzburg 2006, 236 Seiten, 19,90 Euro