„Jungwähler setzen Trends“

Erstwähler haben die Entwicklung hin zu den kleineren Parteien vorweggenommen. Das werde man auch in Berlin erleben, sagt Sozialforscher Klaus Hurrelmann. Er wünscht sich Jugendliche zukünftig auch als Parlamentarier

taz: Herr Hurrelmann, in Berlin dürfen zum ersten Mal Jugendliche an den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen teilnehmen. In Nordrhein-Westfalen gibt es das Jugendwahlrecht schon länger. Welche Erfahrungen wurden dort gemacht?

Klaus Hurrelmann: Die Wahlbeteiligung der Erstwähler ist seit vielen Jahren niedrig, ebenso das politische Interesse der jungen Generation. Das spiegelt sich dann natürlich auch wider, wenn man Jugendliche an einer Kommunalwahl teilnehmen lässt. Allerdings war die Wahlbeteiligung höher, als viele geargwöhnt hatten. Entscheidend ist aber nicht, ob sich die Jugendlichen für Politik interessieren, sondern ob bei ihnen das Symbol ankommt, dass sie zum Wahlvolk dazugehören.

Ist diese Botschaft angekommen?

Ja. Die Gruppe fühlt sich politisch ernst genommen und spürt, dass ihr Votum registriert wird – so wie das der anderen Altersgruppen auch.

Wählen Jugendliche anders?

Sie wählen viel unabhängiger und nicht automatisch wie ihre Eltern. Sie haben ihre eigenen, unabhängigen Einschätzungen, und sie sind flexibler in ihren Entscheidungen. Dieses Phänomen haben wir auch schon bei den 18-jährigen Erstwählern beobachtet. In gewisser Weise sind die Jugendlichen Trendsetzer. Zum Beispiel haben die Erstwähler die Entwicklung hin zu den kleineren Parteien vorweggenommen. Das werden wir auch in Berlin erleben.

Sind Jugendliche anfälliger für extreme Positionen?

Ja, aber nicht in einem beängstigendem Ausmaß. Jugendliche lassen sich beeindrucken von einer klaren Position, sie haben stärker als ältere Wähler eine Vorliebe für zugespitzte, authentische, aber auch glaubwürdige Positionen. Deshalb haben Parteien mit Kandidaten eine Chance, die eine sehr direkte Position vortragen. Viele junge Leute können auch wegen ihrer ungeduldigen Art kaum verstehen, warum demokratische Entscheidungen so lange dauern und diplomatisch verklausuliert werden – wer als Kandidat glaubwürdig macht, dies auch als Problem zu empfinden, hat eine gewisse Chance.

Große Vereinfacher kommen bei Jugendlichen also besser an?

In gewisser Weise schon. Populismus kommt allerdings bei Jugendlichen gar nicht gut an, da haben sie einen siebten Sinn. Auch ein Nach-dem-Munde-Reden ist nicht beliebt. Zudem müssen die Aussagen der Politiker überprüfbar sein. Im Übrigen weicht das kaum ab von dem Trend, den wir in der gesamten Wählerschaft sehen. Erstwähler sind auch immer Frühindikatoren.

Wie kommen die Parteien an die Jungwähler heran?

Es gibt eine große Distanz zu den etablierten Parteien, diese erscheinen den Jugendlichen als kaum durchschaubare Apparate. Nur noch 1,5 Prozent der jungen Leute gehört heute überhaupt irgendeiner Partei an, vor zehn Jahren war dieser Prozentsatz noch doppelt so hoch. Eine klare Position, hinter der eine authentische Persönlichkeit steht, die eine verständliche Sprache spricht, hat gute Aussichten anzukommen.

Hat die Teilnahme an Wahlen einen Einfluss auf späteres politisches Engagement der Jugendlichen?

Ganz eindeutig ja. Die Beteiligung an Wahlen hat einen aktivierenden Effekt, sie kann auch an den Schulen thematisiert werden. Die frühere Wahlteilnahme begründet sich ja darin, dass sich die Pubertät immer weiter nach vorne verlagert – und damit auch die politische Urteilsfähigkeit früher eintritt.

Sollte das Wahlrecht für Jugendliche ausgeweitet werden, etwa auf das passive Wahlrecht?

Es gibt jedenfalls keinen Grund dafür, warum nicht auch ein Unter-18-Jähriger ein Parlamentarier sein sollte. Das würde in die Altersgruppe ausstrahlen. Eines Tages sollte man auch auf Bundesebene über das Wahlrecht für Jugendliche nachdenken. Die Frage, ob man mit dem Wahlalter noch weiter runtergeht, sollte man aber nur langsam angehen.

INTERVIEW: RICHARD ROTHER