„Warum soll ich mich noch ändern?“

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INTERVIEW KLAUS JANSENUND MARTIN TEIGELER

taz: Herr Clement, sind Sie von NRW enttäuscht?Wolfgang Clement: Weshalb sollte ich enttäuscht sein? Ich bin ein Nordrhein-Westfale, mitten aus dem Ruhrgebiet. Ich habe schwierige, aber vor allem wunderbare Zeiten hier erlebt. Da gibt es keinen Blick zurück im Zorn.

Nach der SPD-Niederlage bei der NRW-Landtagswahl 2005 wurden Neuwahlen im Bund angesetzt und Sie haben Ihren Job verloren.Die Neuwahlen waren nicht wegen NRW notwendig, sondern weil wir im Bundesrat unter keinen Umständen mehr mehrheitsfähig waren und die Regierung Gerhard Schröders keine hinreichende Unterstützung der eigenen Truppe mehr hatte.

Aber es muss Sie doch wurmen, dass der neue CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers das 60. Landesjubiläum jetzt groß feiern kann.Nein, das sind demokratische Veränderungen, wie sie irgendwann sogar in Bayern fällig werden. NRW ist nie ein klassisches sozialdemokratisches Land gewesen. Ich bin aufgewachsen, als es ein CDU-geführtes Land war. Den Glauben, dass wir NRW gepachtet hätten, habe ich nie gehabt.

Jetzt hat Jürgen Rüttgers das Land NRW erstmal für fünf Jahre gepachtet.Ich kann bei dieser Regierung die eigene Politik, den eigenen Charakter noch nicht erkennen. Außer im Schulbereich nehme ich mehr Verwaltung als politische Führung des Landes wahr. Das ist ein ganz niedriger Level. Da wird der Ball flach gehalten, um für viele Wähler offen zu sein. Das hat wenig mit Substanz zu tun, aber ganz viel mit Taktik. Diese Landesregierung lebt besonders im ökonomischen Bereich von dem, was vorher angelegt worden ist. Da gibt es bisher keinen wesentlichen neuen Akzent.

Nach 60 Jahren NRW ist es Zeit für Rankings: Wer war der wichtigste Ministerpräsident? Johannes Rau hat das Land Nordrhein-Westfalen personifiziert. Er hat die Menschen in NRW auf unnachahmliche Weise angesprochen und er hat jedenfalls ganz maßgeblich dieses Land zu einem Bildungs- und Hochschulstandort gemacht.

Wie stark hat Wolfgang Clement das Land geprägt?Das kann man kaum klar voneinander trennen: Ich habe ja über etliche Jahre sehr eng mit Johannes Rau zusammen gearbeitet. Ich kann meine Zeit als Staatskanzleichef, als Wirtschafts- und Verkehrsminister und als Ministerpräsident deshalb auch nicht trennscharf betrachten. Die Politik, die Johannes Rau und ich gemacht haben, war aus einem Guss. Als Personen waren wir wohl recht unterschiedlich. Aber in unserer Politik nicht.

Waren Sie gleich erfolgreich?Wir haben vieles voran gebracht. Ich lese, wie Sie wissen, immer noch von HDO [dem gescheiterten Oberhausener Trickfilmzentrum, Anm. d. Red.]. Aber ich könnte Ihnen Hunderte ganz anderer Beispiele sagen, darunter viele Erfolgsprojekte. Doch NRW ist natürlich längst nicht am Ziel. Am wichtigsten erscheint mir weiterhin das Problem der Verkehrsinfrastruktur. Das Hauptmanko des Landes ist die mangelnde Verknüpfung zwischen Rheinschiene und Ruhrgebiet. Da sehe ich, das werden Sie verzeihen, im Transrapid weiterhin ein wichtiges Instrument.

Zu diesem Thema hat Axel Horstmann, der ehemalige SPD-Verkehrsminister, ein Strategiepapier geschrieben. Sie hätten in Ihrer Regierungszeit zu viele Großprojekte wie den Transrapid vorangetrieben.Nein, zu wenig. Dass der Transrapid nicht weiterverfolgt worden ist, war einer der größten Fehler. Das kleine Karo ist halt auch in NRW recht stark. In diesem Land hat es zu oft gefehlt an dem Mut zu wirklichen Durchbrüchen. Genauso fehlt der Nachdruck, beim Bund eigene Interessen stärker zu vertreten. Wir sind in NRW verglichen mit Bayern stets benachteiligt worden. Das Ruhrgebiet als industrielle Kernregion der Republik ist über Jahrzehnte ausgebeutet worden, sowohl die Menschen als auch der Boden. Aus dem Ruhrgebiet ist Deutschland wieder aufgebaut worden, aber Deutschland hat später viel zu wenig getan, um den Strukturwandel im Revier zu unterstützen. Die Solidarität, die NRW immer gegeben hat, hat selten eine solidarische Antwort gefunden.

Ihr Koalitionspartner war zuletzt die grüne Partei. Woran ist Rot-Grün in NRW gescheitert?Irgendwann ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht, wobei ich diesen Vorrat bei Rot-Grün nie überschätzt habe. Wir haben uns zudem zu sehr mit uns selbst beschäftigt und uns koalitionsintern zermürbt. Dennoch: Wir haben in NRW und in Deutschland eine Politik der Modernisierung in Gang gebracht.

Würde die SPD in NRW noch regieren, wenn sie nach der Landtagswahl 2000 mit der FDP statt mit den Grünen koaliert hätte?Das weiß ich nicht.

Aber es wäre Ihnen schon lieber gewesen?Natürlich habe ich Koalitionswechsel immer für ganz normal gehalten. Aber es hat ja jetzt keinen Zweck, an der Geschichte herum zu deuteln. Wir haben ja mit Rot-Grün durchaus Einiges erreicht.

Was sind zum Beispiel die bleibenden Verdienste Ihrer damaligen grünen Umweltministerin Bärbel Höhn?In den Hauptthemen wie dem Braunkohletageabbau hat sie sich zu Recht nicht durchgesetzt. Aber sie hat beispielsweise die Verbraucherschutzpolitik voran gebracht.

Haben Sie sich mehr über Bärbel Höhn geärgert oder später in Berlin über Jürgen Trittin?Es geht nicht um persönlichen Ärger mit Frau Höhn oder Herrn Trittin. Nein, wir haben heftige Auseinandersetzungen in einigen Sachfragen gehabt, vor allem in der Energiepolitik. Aber insgesamt haben wir ganz gut zusammengearbeitet.

Wie war die Zusammenarbeit mit den Grünen bei den Themen Wirtschaft und Arbeit?Das war für mich teilweise einfacher mit dem Koalitionspartner als innerhalb der SPD. Bei der Steuerpolitik oder der Sanierung der sozialen Sicherheitssysteme ist die Nähe zu den Grünen größer gewesen als zu nicht Wenigen in der eigenen Partei – das hat sich auch bei der Agenda 2010 und den Arbeitsmarktreformen gezeigt. Das war vielleicht der schlimmste Fehler: Dass wir die eigene Partei nicht hinreichend für unsere Politik gewonnen haben.

Ging es zu schnell?Nicht zu schnell, im Gegenteil. Insgesamt waren wir zu spät dran mit den Reformen. Wir hätten das schon 1998 angehen müssen und nicht erst 2002. Die Reformpolitik war ohne jeden Zweifel richtig. Aber zu viele in der SPD haben das bis heute nicht mit- oder nachvollzogen.

Ist es Ihnen recht, wenn Ihr Name vor allem mit dem Namen Hartz verbunden bleibt?Das ist mir recht. Entscheidend ist, dass wir den Arbeitsmarkt tiefgreifend verändert und damit voran gebracht haben. Und das wird ja jetzt Schritt für Schritt und Monat für Monat deutlicher.

Aus Protest gegen Ihre Politik ist eine neue Linkspartei entstanden. Hätte man nicht aus Gerechtigkeitsgründen neben den Langzeitarbeitlosen auch die Besserverdienenden mehr fordern sollen?Nein. Es wäre ungerecht gewesen, den Arbeitsmarkt so weiter laufen zu lassen wie er vor unseren Arbeitsmarktreformen war. Wir hatten über fünf Millionen Arbeitslose. Was war daran gerecht? Soziale Gerechtigkeit heißt, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Dabei denken auch zu viele Sozialdemokraten immer noch, man könne das alles im nationalen Rahmen lösen. Man kann es nicht.

Die CDU kündigt eine „Generalrevision“ von Hartz IV an.Humbug. Der Ombudsrat hat Recht: Dies war und ist eine der wichtigsten Sozialreformen der Nachkriegszeit.

Gerade die NRW-CDU will die Reform grundlegend überarbeiten.Das sind doch nur Schlagworte. Was heißt denn „Generalrevision“? Wird dann diskutiert über einen gesetzlichen Mindestlohn oder das hundertste Kombilohnmodell? Das bringt nichts. Die grundlegende Reform war Hartz IV. Dass es sich dabei insgesamt um ein lernendes System handelt, in dem aufgrund praktischer Erfahrungen hier oder da nachjustiert werden muss, war allen Beteiligten von Beginn an klar und ist auch notwendig.

Wäre es nicht gerechter, wenn Menschen, die länger gearbeitet haben, auch länger das Arbeitslosengeld I bekommen?Nein. Erstens kann es niemand mehr bezahlen. Zweitens hilft es nicht. Wir haben das viel zu lange gemacht. Wir haben die Menschen mit 52 Jahren in Rente geschickt. Das war zeitweise nötig, hat uns aber von der eigentlichen Aufgabe weggeführt. Wir brauchen das Geld, um mehr in Bildung und Qualifizierung, in Wissenschaft und Forschung zu investieren. Schauen Sie sich doch die Langzeitarbeitslosen an: Weit mehr als ein Drittel sind minderqualifiziert. Wir brauchen mehr Selbstständigkeit und mehr innovative Unternehmen, nicht mehr Kombilöhner.

Also ist die große Koalition auf dem falschen Dampfer?In der Arbeitsmarktpolitik läuft zu viel nach alten Mustern. Ich vermisse die großen Taten dieser großen Koalition. Und es gibt eine enorme Staatsgläubigkeit, auch in dieser Bundesregierung. Dabei müssen wir neue Wege gehen und viel mehr auf die Mobilisierung und Motivierung der eigenen, der persönlichen, der privaten Kräfte setzen. Wir müssen, um nur dieses Beispiel zu nennen, Risikokapital, vor allem privates, für mehr Innovationen und für mehr Investitionen gewinnen.

Fühlten Sie sich gemeinsam mit Gerhard Schröder allein gelassen von der eigenen Partei?Gerhard Schröder hat das herausgeholt aus der Partei, was herauszuholen war. Er hat ja auf vielen Parteitagen und Konferenzen immer wieder die Zustimmung bekommen. Aber es ging immer nur mit massivem Druck. Wir haben es letztlich nicht geschafft, die SPD inhaltlich zu überzeugen. Das ist mit einer der Gründe, warum wir gescheitert sind.

Hat es die SPD versäumt, die Richtung ihrer Politik festzulegen?Es ist nicht gelungen, den Mittelbau der Partei mitzunehmen. Der Mittelbau, die Gruppierung der SPD-Funktionsträger, ist inhaltlich vielfach noch immer auf dem Niveau aus der Zeit vor der Globalisierung. Die Antworten, die so gegeben und verlangt werden, sind nicht auf der Höhe der Zeit.

Die SPD-Landespolitiker sind unbekannt. Forsa-Chef Manfred Güllner attestiert der NRW-SPD einen „Niedergang ohne Beispiel“. Teilen Sie die Einschätzung?Der Verlust der Regierungsmacht hat der Partei auch emotional die Beine weggerissen. Das war und ist schwer. Und in der Vergangenheit sind uns auch Fehler unterlaufen. Die Organisationsreform, die Abschaffung der alten Parteibezirke zugunsten eines NRW-Landesbezirks, war offensichtlich falsch. Eine Partei wie die SPD kann man in einem so großen Land wie NRW nicht allein von Düsseldorf aus führen. Dadurch fehlt es an Präsenz in den Regionen und vor Ort.

Also steht der Partei eine lange Oppositionszeit bevor?Es erfordert viel Einsatz, auch inhaltlich, um da wieder herauszukommen. Eine Volkspartei kann nur gewinnen, wenn sie auf dem Gebiet des Sozialen und der Ökonomie stark ist. Zu meinen, allein die soziale Kompetenz – was immer das ist – reiche aus, ist ein großer Irrtum. Damit gewinnt man keine Wahlen. Es war deshalb eine absolut richtige Entscheidung, dass Hannelore Kraft die Oppositionsführerin im Landtag geworden ist. Sie hat ökonomischen Sachverstand. Aber sie braucht jetzt Zeit, um rundum bekannt und dann auch als Gegenkandidatin akzeptiert zu werden.

Die NRW-SPD hat in den letzten Jahren 50.000 Mitglieder verloren. Ist die Rolle der SPD als Partei der abhängig Beschäftigten gefährdet?Die Sozialdemokratie war nie allein eine Partei der abhängig Beschäftigten, sondern sie ist eine Partei, die offen ist für alle. Sie hat sich seit August Bebel aus zwei Quellen gespeist. Sie war immer ein Bündnis der großen Mehrheit der Arbeitnehmer mit dem aufgeschlossenen Bürgertum, mit den Intellektuellen. Wenn man das verliert, hat man ein Problem.

Was wollen Sie der SPD noch geben?Ich habe alles gegeben. Ich habe nicht die Absicht, noch mal aktiver Politiker zu werden. Ich bin jetzt Selbständiger. Ich habe mein Büro in Bonn. Ich beschäftige mich mit vielen Fragen – die sind hochpolitisch, aber nicht im parteipolitischen Sinne.

Sie sitzen jetzt im Aufsichtsrat von DuMont Schauberg und RWE Power. Setzen Sie da Ihre Politik fort?Ich versuche an Wissen und Erfahrung zu investieren, was ich habe. Ich tue das in den Bereichen Medien und Energie, im Dienstleistungssektor und in moderner Beschäftigungspolitik. Das alles tue ich jetzt in und mit Unternehmen, und es ist mindestens so spannend wie in der Politik.

Ist es auch entspannender? Als Politiker sind Sie manchmal aus der Haut gefahren.Das tue ich heute auch noch, wenn es Not tut. Ich komme halt aus dem Ruhrgebiet und habe wohl eine recht direkte Art. Ich sehe nicht ein, warum ich mich noch ändern sollte. Aber natürlich lebe ich jetzt relaxter. Ich habe 16 Jahre Berufspolitik gemacht. Das ist schrecklich viel. Ich denke, dass man in einer Funktion nicht länger als zwei Legislaturperioden tätig sein sollte. Auch als Politiker ist man irgendwann ausgepowert und ausgereizt.