Das gläserne AKW

Bundesumweltminister Gabriel fordert „Tiefenprüfung“ der deutschen Atomkraftwerke

AUS BERLIN NICK REIMER

Im Sommer 1966 startete Block A im nordschwäbischen Gundremmingen und produzierte den ersten deutschen Atomstrom. 40 Jahre später steht fest: Atomenergie ist nicht beherrschbar. „Kernkraftwerke sind so komplexe Systeme, dass sie nur nach dem Prinzip ‚Learning by doing‘ betrieben werden können“, erklärte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel gestern. „Bei den Gefährdungsrisiken, die von Kernkraft ausgehen, ist dieses ‚Learning by doing‘ nicht vertretbar.“

Am Morgen hatte der Bundesumweltminister – ihm untersteht auch die Atomaufsicht – dem Kabinett einen Bericht über die Folgen der Forsmark-Havarie vorgelegt. Nach dem Sicherheitscheck aller deutschen AKWs gibt es aufgrund einer anderen Technik danach „keine Gefahr einer 1:1-Übertragung des Vorfalls in Schweden“. Deshalb habe er auch von vorläufigen Betriebseinstellungen abgesehen. „Ich betone allerdings, dass dies nur eine erste, oberflächliche Analyse ist, die weiterer, gründlicherer Untersuchung bedarf.“

Gabriel will eine Tiefenprüfung. So gebe es zwar in Sachen Notstromaggregate Entwarnung. „Unklar ist aber weiterhin, warum die Kraftwerkssteuerung in Forsmark ausgefallen ist.“ Das Bedienpersonal hatte dort wegen Strommangels minutenlang keine Kenntnis wesentlicher Anlagenparameter – und auch keine Chance, diese zu beeinflussen. Gabriel will deshalb, dass „die Baurealität der AKWs mit den Unterlagen aus den Genehmigungsverfahren verglichen wird“. Stimmen diese nicht überein, wäre auch keine Grundlage für die Betriebsgenehmigung gegeben. Zweitens will Gabriel die Betreiber verpflichten, ein eigenes Informationssystem aufzubauen. „Wenn im Luftverkehr Störungen auftreten, werden doch sofort auch alle Airlines über Details informiert.“

Drittens schließlich will sich der Minister die Internationale Atomaufsicht ins Haus holen. „Ich will wissen, ob die staatliche Atomaufsicht in Deutschland internationalen Standards genügt.“ Das geht in erster Linie gegen die Bundesländer. Deren Arbeit bezeichnete Gabriel als „suboptimal“. Die Länder hatten dem Kabinettsbericht zuarbeiten müssen. Während beispielsweise Bayern oder Schleswig-Holstein eigene Gutachter oder den TÜV bemühten, vertraut Niedersachsen den Betreibern blind. Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) hatte an den Minister gemeldet: „Ich habe die Stellungnahmen der Kraftwerksbetreiber geprüft und schließe mich ihren Einschätzungen an.“

Interessant sind diese Ankündigungen im Zusammenhang mit der Laufzeitdebatte. Der Atomkonzern RWE hatte mehrfach erklärt, eine Laufzeitverlängerung für Biblis A, das älteste in Deutschland laufende AKW, beantragen zu wollen. Vattenfall, Betreiber von Brunsbüttel, will auf Landesebene bereits über Laufzeitverlängerung verhandeln. Nach dem Atomkonsens sind diese beiden Blöcke die nächsten, die abgeschaltet werden müssen – 2007 oder 2008. Der Koalitionspartner CDU/CDU versucht beharrlich die RWE-Pläne zu unterstützen: Die Union will durch Laufzeitverlängerungen erstens den Strompreis in Deutschland senken, zweitens die Wirtschaft ankurbeln und drittens das Klima schützen (Atomstrom ist CO2-frei).

Gabriel drehte nun den Spieß um: Er forderte von den Betreibern, „die älteren Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen und deren gemäß Atomkonsens genehmigte Strommengen auf jüngere Anlagen zu übertragen“. Nicht dass er den Betreibern Fahrlässigkeit vorwerfen wolle. „Die Störfälle in Deutschland haben aber immer wieder gezeigt, dass ein Atomkraftwerk systemimmanent Risiken birgt.“