Raus aus der Opferrolle

Jüdische und muslimische Intellektuelle fordern einen sofortigen Waffenstillstand – von Israel und der Hisbollah. Schuldzuweisungen an beide Seiten klammern sie bewusst aus. So wollen sie die Logik der Opferkonkurrenz durchbrechen

AUS BERLIN STEFAN REINECKE

Friedensappelle haben keinen guten Ruf. Sie sind oft moralisch einwandfrei, aber intellektuell unbedarft. Der Aufruf muslimischer, jüdischer und christlicher Intellektueller, der gestern in Zeit und taz erschien, versucht die Fallen und ausgetretenen Pfade des Genres zu verlassen. Wir haben, so der deutsch-iranische Publizist Navid Kermani gestern in Berlin, „bewusst auf Schuldzuweisungen verzichtet und anstelle dessen auf Selbstkritik gesetzt“. Aufgabe von Intellektellen sei weniger Parteinahme, als den Fundamentalisten die Indienstnahme „religiöser Traditionen“ streitig zu machen.

Die jüdische US-Bürgerin Susan Neiman, die in Potsdam das renommierte Einstein Forum leitet, unterstützte diese Interpretation des Aufrufs. Schuldzuweisungen zementierten stets „eine Opferkonkurrenz“, deren Logik gerade durchbrochen werden müsse. Denn solange sich die Konfliktparteien als Opfer fühlen, werde der Krieg in Schwung gehalten. Deshalb, so Neiman, habe man bewusst das Positive der religiös-kulturellen Tradition betont.

Zu den Unterzeichnern gehören Geistliche und säkulare Intellektuelle aus Israel, den USA, Iran und Europa. Der Text (www.navidkermani.de) wird von der Hilfsorganisation medico international unterstützt. Er soll auch in Zeitungen in Tel Aviv, Beirut und Teheran erscheinen. Im Iran will die liberale Tageszeitung Shargh am Samstag den Text drucken, der zwei Kernforderungen enthält: einen sofortigen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah sowie den Appell, den Krieg nicht als Konflikt zwischen den Religionen zu fundamentalisieren. Der Aufruf richtet sich somit vor allem gegen den Versuch, religiöse Traditionen für den Krieg zu instrumentalisieren. Ob der Text die Zensur im Iran passieren wird, ist noch offen. In Israel bemühen sich die Initiatoren um eine Publikation in Ha’aretz.

Den reflexiven, moderaten Grundton des Aufrufs schlugen gestern auch Kermani und Neiman bei der Präsentation des Textes an. Neiman gab jüdischen Befürwortern des Krieges zu bedenken, dass auch, wer die Aktionen Israels für eine legitime Antwort auf die Hisbollah halte, sich fragen müsse, „ob dieser Krieg auch klug ist“. Denn, so der Nahostkoordinator von medico international Martin Glasenapp, Israels Militäraktion zerschlage die libanesische Zivilgesellschaft und stärke unfreiwillig die Hisbollah, die im Libanon mittlerweile nicht mehr als missliebige Miliz, sondern als Landesarmee wahrgenommen werde. Glasenapp, der vor kurzem noch in Beirut war, berichtete, dass man dort die israelischen Angriffe als „unseren 11. September“ empfinde. Jeder vierte Libanese sei mittlerweile auf der Flucht vor den israelischen Angriffen. Dass die militante Hisbollah am Ende von dem Krieg politisch profitierten wird, macht auch Kermani Sorgen. Denn, so der Publizist, „für uns Muslime ist die Hisbollah der ideologische Gegner“.

Laut Kermani ist der Aufruf kein Schnellschuss, sondern Resultat eines jahrelang gewachsenen kommunikativen Netzwerkes von jüdischen und muslimischen Intellektuellen. Eine Premiere sei, dass Iraner wie der Philosoph Bijan Abdolkarimi und Israelis wie der Literaturwissenschaftler Hannan Hever den gleichen Text unterstützten.

Und wie geht es weiter? Susan Neiman erinnerte an das oft beklagte Dilemma regierungskritischer Juden, die sich mit ihren Anwürfen in Israel unbeliebt machen – aber vergeblich auf arabische Intellektuelle hoffen, die eine ähnliche Rolle in ihren Gesellschaften spielen. Dieser Aufruf, so Neimans Hoffnung, sei vielleicht ein Beginn, um dieses Ungleichgewicht aufzuheben.