So wird Sachzwang gebaut

Die Hochschulreform zeigt, wie aus den Empfehlungen informeller Kreise rechtsbindende Beschlüsse werden können. Der Bologna-Prozess ist durch nichts demokratisch legitimiert. Über den Bonapartismus der vereinigten Exekutivgewalten Europas

Es ist einfach: Die Minister kommen nach Haus, berichten vom Protokoll und erklären, wegen Brüssel müsste das eins zu eins umgesetzt werden

von HAUKE BRUNCKHORST

Europa erlebt heute die größte Hochschulreform seiner neueren Geschichte. Jeder, der irgendetwas mit dem Hochschulalltag zu tun hat, erfährt es am eigenen Leib, und die anderen aus der Zeitung, obwohl die Informationen dürftig sind und die Debatten sich ins Feuilleton zurückgezogen haben. MA, BA, Akreditierungskommissionen, Evaluierungen, ECTS-Punkte, Vernichtung professoraler Arbeitszeit für Verwaltungstätigkeiten, für die Professoren, Assistenten, wissenschaftliches Personal nicht qualifiziert sind, aber auch Hochschulräte, in denen die landesüblichen Unternehmer mit Sitz und Stimme vertreten sind, Juniorprofessoren, Evaluierungsbehörden und so weiter, kurz: der Bologna-Prozess.

In dieser oberitalienischen Stadt haben sich Minister und Staatssekretäre, Experten und Private/Public-Partner aus EU und Anrainern in Sachen Bildung und Wissenschaft eines schönen Tages ohne Organkompetenz (denn die hat die EU in dieser Sache nicht) spontan und informell und völlig legal getroffen. Sie haben über die Reform der europäischen Universität geplaudert, diskutiert, gearbeitet und der Öffentlichkeit auf der anschließenden Pressekonferenz, es war der 9. Juni 1999, ein Ergebnisprotokoll präsentiert. Ein Protokoll ohne Rechtsverbindlichkeit, kein völkerrechtlich bindender Vertrag, der vor seiner Umsetzung noch der parlamentarischen Ratifizierung bedurft hätte. Kein europäisches Gesetz, keine Richtlinie, keine Entscheidung, keine Verordnung, noch nicht einmal eine unverbindliche Empfehlung oder Stellungnahme gemäß Art. 249 EGV. Sondern eine kollektive Meinungsäußerung – wie es auch bei den meisten publik gemachten Äußerungen des zu vier Fünfteln informellen Europäischen Rats der Staatschefs der Fall ist –, bestenfalls institutionell ortloses soft law.

Aber das hat es in sich. Es entfaltet, vermittelt über eine ebenso klassische wie simple Machttechnik im Fortgang der Erzählung implementativ bindende Kraft. Es wird in ganz Europa, EU plus Anrainer, klag- und diskussionslos umgesetzt und hat in kurzer Zeit zur vollständigen Umwälzung der europäischen Universitäten und Hochschulen geführt.

Während die Wissenschaftler, die zwar mittlerweile jedes korporative Selbstbewusstsein verloren haben, aber immer noch zu zahlreicher Individualkritik motiviert sind, sich in den Feuilletons den Mund fusslig reden, vollzieht die exekutive Gewalt das bypassing der öffentlichen Meinung. Da sag noch mal einer, die Politik sei nicht handlungsfähig.

Wie machen sie das? Mit einer simplen Herrschaftstechnik. Sie ist in in der EU gang und gäbe und geht so: Die Minister kommen nach Haus, berichten vom Protokoll und erklären, wegen Brüssel müsste das Ganze jetzt eins zu eins umgesetzt werden. Und es wird umgesetzt. Das zur nachgeordneten Behörde degradierte Parlament kann nichts machen und fügt sich „feig, kleinlaut, muthlos“ (Marx) zur fälligen Abstimmung, 93,99 Prozent Ja-Stimmen, ein Volkskammerbeschluss. Der Minister ist es nicht gewesen, Brüssel ist’s gewesen und nimmt alle Schuld auf sich, ganz das christliche Europa.

Nur die Kommissare der Brüsseler Behörde wundern sich am Ende über Legitimationseinbußen und beschimpfen nach dem verlorenen Verfassungsreferendum das Volk. Wo doch alles so schön geklappt hatte, und eines vor allem: Die vereinigten Exekutiven Europas und ihre Private/Public-Partner haben ihre transnationale Klassenmacht wieder einmal ein kräftiges Stück weit vergrößert, ihren Handlungsspielraum jenseits der Gesetzesbindung erweitert, ungeahnte Kompetenzen dazugewonnen. Einen technisch perfekter funktionierenden Sachzwang hätte Helmut Schelsky nicht erfinden können.

Die ursprüngliche Akkumulation informeller Macht und Gesetzgebungskompetenz, die sich heute an der Arbeit des Europäischen Rats ebenso gut beobachten lässt wie am Beispiel des Baseler Bankenausschusses oder eben beim Bologna-Prozess, ermöglicht der transnationalen Klasse das geräuschlose bypassimg aller Legitimationsmechanismen. Informelle Beschlüsse ohne bindenden Charakter wirken wie das altrömisch-republikanische senatus consultum: ein Ratschlag ohne formelle Gesetzeskraft, dem sich trotzdem niemand entziehen kann.

Offenbar die Autoren unserer Hochschulgesetze auch nicht. Obwohl es in der Europäischen Union keine Gesetzgebungskompetenz in Sachen Bildung gibt und auch keine entsprechende Gesetzgebung, obwohl in Bologna und anderswo kein völkerrechtlich bindender Vertrag zustande kam, steht im Vorspann zur Vorlage der schleswig-holsteinischen Landesregierung für ein neues Hochschulgesetz, Abschnitt A, Absatz 2, der sich in vorlaufendem Gehorsam vor der anonymen Macht jenes Prozesses verbeugt: „Der Bolognaprozess mit seinen 45 Mitgliedstaaten setzt Standards, die auf der Ebene des jeweiligen Landes umgesetzt werden müssen.“

Wer der Autor dieses Müssens war, haben wir soeben gesehen. Der Gesetzestext konstruiert sich selbst als Vollzug einer höheren Norm, er malt das einfache Gesetzesrecht, wie Sigmar Polke in den späten Sechzigerjahren seine Bilder, nur noch „im Auftrag höherer Mächte“, und er tut gut daran, denn den Auftrag der Verfassung hat er nicht. Er verletzt sie, aber sein Gewissen ist rein, denn die höheren Mächte – 45 Mitgliedstaaten einer öffentlichen Geheimgesellschaft ohne Eintrag ins Vereinsregister, fast doppelt so viel, wie die Union Gliedstaaten hat – wohnen hoch oben über der Verfassung, dort, wo früher das natürliche und das göttliche Recht hausten.