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: Masken des Selbst: Achim Geisenhanslüke erkundet die Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur

Jedes Buch trägt auch eine Maske. Das vorliegende ist maskiert mit einem Gemälde des belgischen Künstlers James Ensor. Dessen maskierte Bürgergesellschaft stellt ein wunderbares Gegenbild zu den nackten Traumwandlerinnen dar, die bei seinem Landsmann, dem Surrealisten Paul Delvaux zwischen bekleideten Passagieren wie selbstverständlich am Bahnsteig warten. Im Wechselspiel zwischen Maskenbild und nacktem Anlitz geht der Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke daran, Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur durch sein Werk zu erkunden.

Ein überaus aktuelles Thema, dessen Erforschung er mit biblischem Beispiel einleitet. Hier ist es David, der sich wahnsinnig stellt, um sein Leben zu retten und so maskiert schließlich die Macht erringt. Doch danach wird es schwieriger, sich um der guten Sache zu verstellen und zu täuschen: Das Christentum stellt den unbedingten Wahrheitsanspruch. Eine raffinierte Täuschung, die mit Luther und seinem Kampf gegen den Papst erstmals in Frage gestellt wird.

Von Interesse sind auch Veränderungen, die im Laufe der Zeit die Begrifflichkeit von Aufrichtigkeit erfährt. Sie pendelt zwischen Dummheit und extremer Verstellung. In der Kunst des Kartenspiels ist Verstellung essenziell. Und schon führt uns der Autor zu Nietzsche, dem Protestanten und Antichristen. Da gibt es wahrlich nichts zu lachen: alles Verstellung. Das Erfinden der Erkenntnis: die verlogensten Minuten der Weltgeschichte. Um zu überleben, muss der Mensch täuschen und sich täuschen, weiß der Philosoph und erklärt die ganze Kultur zum Verstellungskunstspektakel, die Kunst zur „echten, resoluten, ehrlichen Lüge“. Plötzlich kommt Odysseus herangerudert, der listenreich die Menschen fressenden Zyklopen blendet und besiegt. Er beweist, dass die List der körperlichen Stärke überlegen ist. Der kraft seines Verstandes siegende Odysseus wird in der Verwandlung des bürgerlichen Homo oeconomicus mit dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip zur Natur des Menschen schlechthin erklärt. Horkheimer und Adorno tauchen auf einmal auf: In der Dialektik der Aufklärung wird der Sieg über die Sirenen zum Ursprung der Kunst im Zeichen der Gewalt.

Im zweiten Teil seiner anschaulich und anregend gestalteten Exkursion durch die Welt des Maskenspiels nimmt sich Geisenhanslüke Goethe und Kant vor und beschreibt den Paradigmenwechsel zur bürgerlichen Kultur der Aufrichtigkeit. Diese stößt schon bald an ihre Grenzen, wenn es um Fragen der Liebe geht. Das Stottern des Verliebten, seine Sprachlosigkeit kann Gefühle schnell abtöten. Aufrichtigkeit macht verletzlich und gelegentlich sehr einsam. Je zivilisierter, desto mehr Schauspieler, weiß Kant, und so eilt das aufklärungskritische Werk ins 18. Jahrhundert, zu den zentralen Figuren Goethe, Schiller und Racine, zu Bühne, Aufrichtigkeit im Roman und Maskenspiel. Im dritten Teil schließlich begegnen uns Kleist und Flaubert und ihr Einfluss auf Kafka. Es entsteht reger Briefverkehr mit Gespenstern, die sich ihrem Gegenüber entfernen. Eine unheimliche Dialektik zwischen Nähe und Distanz entsteht, während Flaubert in seinen privaten Briefen an Louise Colet die völlige Abwesenheit inszeniert: nur keine Gefühle! In seinen Romanen und Briefen wandelt Flaubert bei Bedarf sein Geschlecht, versteckt sein Leben in der Literatur und verschwindet als Autor schließlich im Text.

Nun, da im Feuilleton viel von Parallelgesellschaften, neuem Patriotismus und Schurken die Rede ist, da Begriffe wie Freiheit und Demokratie eigenartige Umwertungen erfahren und eine überraschte Bundeskanzlerin vom mächtigsten Mann der Welt öffentlich am Nacken massiert wird, schärft dieses Buch über die Masken in der Literatur sicher auch die Sensibilität für die Masken in der Politik. WOLFGANG MÜLLER

Achim Geisenhanslüke: „Masken des Selbst“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006,251 Seiten, 59,90 Euro