Er und ich

Der Neandertaler ist einer dieser Typen, die man in einer Kleinstadt wie Mettmann zwangsläufig kennenlernt und die einem fortan ständig über den Weg laufen. Chronik einer Zufallsbekanntschaft

VON DAVID DENK

Mettmann. Das ist der Name einer unbedeutenden, unbekannten und eigentlich völlig langweiligen kleinen Stadt, die genau hier einmal existiert hat. Etwas an dieser Stadt allerdings war weltberühmt: das kleine Tal, in dem sie lag.

Roland Hüve, „Neanderthal – Das Mettmann-Musical“

Wenn Ilona Hodes oder ihre damals schon greise Mutter Bücher als Geschenk verpackten, klebten sie zum Abschluss kleine Aufkleber auf das Geschenkpapier, über das mit der Schere gelockte Geschenkband. Darauf stand: „Bücherstube Ilona Hodes am weltberühmten Neandertal“. Schon als kleiner Junge habe ich nicht verstanden, was das Neandertal mit den Büchern von Frau Hodes zu tun hat: Werden sie etwa lesenswerter, weil man sie keine fünf Kilometer vom Fundort des Homo neanderthalensis gekauft hat? Und überhaupt: Wer interessiert sich schon für ein paar Knochen, die offenbar so oll sind, dass man sie noch nicht mal besichtigen kann – zumindest nicht im Neandertal.

In diesem Sommer ist es 150 Jahre her, dass Steinbrucharbeiter östlich von Düsseldorf, zwischen Erkrath und Mettmann, in einer schon bald darauf dem Kalkabbau geopferten Höhle, der Feldhofer Grotte, 16 seltsame, dunkelbraune Knochenreste fanden. Was sie zunächst für die Überbleibsel eines Höhlenbären hielten, erkannte der hinzugezogene Naturforscher Johann Carl Fuhlrott sofort als Skelettreste eines fossilen Menschen. Mittlerweile gehen Wissenschaftler nach DNA-Analysen davon aus, dass die vor 27.000 Jahren verschwundene Menschenart wohl nicht unsere direkten Vorfahren sind. Der Homo erectus, der bis vor etwa 400.000 Jahre lebte, gilt als letzter gemeinsamer Urahn.

125 Jahre nach dem Knochenfund kam ich auf die Welt, und zwei Jahre darauf zogen wir nach Mettmann, 40.000 Einwohner, verkehrsgünstige Lage – in ein Reihenendhaus in einer Sackgasse. Der Wendehammer und vor allem der „Berg“, ein aufgeschütteter und zugewachsener Lehmhügel, einige Meter die Straße runter, wurden mein Revier: die Nachbarskinder kennenlernen, von den älteren Fahrrad fahren lernen, Mirabellen pflücken, Fußbälle über die dicht an dicht stehenden Friedhofstannen in den Garten von Herrn Slotta schießen und sie niemals wiedersehen, sich mit „Klingelmännchen“ rächen, erste Ausflüge in die Innenstadt, zu Karstadt, Spielwaren Franz, in den Nippesladen „Kruschelmuschel“ – und ins Neandertal, das für mich vor allem ein Naherholungsgebiet ist.

Schon mit dem Kindergarten war ich oft dort – auf dem großen Spielplatz, der mir heute längst nicht mehr so groß vorkommt, und zu Nachtwanderungen. Zunächst blieb es bei harmlosen Spaziergängen im Dunkeln und in Zweierreihen, später konnte es schon mal passieren, dass angeleuchtete Puppen über unseren Köpfen im Geäst baumelten und in Schwarz gekleidete Ehrenamtliche der Evangelischen Kirchengemeinde aus dem Graben am Wegesrand nach unseren Knöcheln griffen. Doch auch daran gewöhnte man sich schnell, und man war regelrecht enttäuscht, wenn der Spuk ausblieb.

Außerdem konnte man im Neandertal Bauern besuchen, Minigolf spielen, in muffigen Ausflugslokalen Kuchen essen und sich in einem Haus im Wald furchtbar langweilen: Ich habe das Neandertal-Museum gehasst und nicht verstanden, warum wir, immer wenn wir Besuch hatten (und wir hatten viel Besuch!), dort so tun mussten, als fänden wir diesen struppigen Typ mit dem gebeugten Gang und den markanten Knochenwülsten über den großen Augenhöhlen irre interessant.

„Bei uns in NRW ist man zu Recht stolz darauf, dass hier ein naher Verwandter des Menschen entdeckt wurde“ – ohne zu erröten kann solch einen Satz nur jemand sagen, der mit der Vermarktung eines Bundeslands sein Geld verdient, wie Christine Harrell von „Nordrhein-Westfalen Tourismus“ in Köln, die in einem der unzähligen Artikel zum Neandertaler-Jubiläum zitiert wird, die alle so lustige Titel tragen wie „Ferner Vetter“ oder „Cousin im Rampenlicht“ . Ich jedenfalls kann auf den Neandertaler nicht stolz sein und will es auch gar nicht – das wäre einfach absurd: Habe ich ihn etwa ausgebuddelt?

Nennen wir es eine Zufallsbekanntschaft. Hätten meine Eltern sich für Moers entschieden, wären wir uns nie begegnet. Für mich ist der Neandertaler einer dieser Typen, die man in einer Kleinstadt wie Mettmann zwangsläufig kennenlernt und die einem fortan ständig über den Weg laufen – ob man will oder nicht. Doch im Gegensatz zu all den Christoph Engelbrechts und Thomas Frambachs wird man den Neandertaler durch einen Umzug nicht los. Mit Mettmann konnten die meisten vor dem Hape-Kerkeling-Klamauk „Samba in Mettmann“ wenig anfangen, das Neandertal ist schon immer allen ein Begriff gewesen.

Ja, sage ich dann, genau da bin ich aufgewachsen, und bin drauf gefasst, dass mein Gegenüber das amüsant findet – genau wie den Namen Mettmann, der sich übrigens nicht von Mettbrötchen ableitet, sondern von „Medamana“, „Die Leute vom mittelsten Bach“. Das haben wir schon in der Grundschule gelernt – anscheinend hat unsere Lehrerin geahnt, dass es Mettmannern nicht schaden kann, eine Erklärung für diesen seltsamen Namen parat zu haben, wenn sie in die Welt hinausziehen. Ich konnte sie immer gut gebrauchen.

Natürlich haben wir auch gelernt, woher das Neandertal seinen Namen hat: vom Kirchendichter Joachim Neander („Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“, „Wunderbarer König“), 1650 in Bremen geboren und 1680 dort gestorben, der die Lateinschule der reformierten Gemeinde in Düsseldorf leitete und oft im nahen Düsseltal wanderte und dichtete.

Seltsamerweise hatte auch die Stadt Mettmann bis in die 1990er-Jahre ein eher distanziertes Verhältnis zu ihrem Naherholungsgebiet: Es war halt da und immer für einen Spaziergang (mit und ohne Hund) gut – doch was man sonst damit anfangen sollte, wusste niemand so recht. Bis man sich für Stadtmarketing zu interessieren begann und übereinstimmend mit NRW-Tourismus-Frau Christine Harrell feststellte: „Kein archäologischer Fund in Deutschland ist international so bekannt wie der Neandertaler.“ Also benannte man die quietschgrüne Stadthalle in „Neandertalhalle“ um – und entdeckte damit die altertümliche Schreibweise wieder, die man fortan beibehielt: beim neuen, viel interessanteren „Neanderthal Museum“, das Ende 1996 eröffnet wurde und auch bei „Neanderthal – Das Mettmann-Musical“ 1999.

Als betriebsnudliger Kleinstadt-Gernegroß mit jahrelanger Schultheatererfahrung im Charakterfach ( „Brüllermännchen“, „Wachtmeister Dimpfelmoser“, „Peterchen“ etc.) war für mich sofort klar, dass ich mitmachen würde, als ich den Aushang sah. Erwartungsgemäß konnte ich die Jury beim Casting in der Aula der Realschule derart nachhaltig für mein schauspielerisches Talent einnehmen, dass sie mir eine ebenso komplexe wie urwüchsige Rolle anvertraute: Bis heute weiß ich nicht, ob es an meiner Interpretation von Cat Stevens’ „Father and Son“ oder dem zu Gehör gebrachten lebensmüden Moritz-Stiefel-Monolog aus „Frühlings Erwachen“ lag, dass Komponist Christoph Kirschbaum, ein Mettmanner Gitarrenlehrer, und Regisseur Roland Hüve mich als Neandertaler besetzten.

Die Doppelbödigkeit dieser Rolle hätte andere schnell überfordert, war ich doch gar kein richtiger Neandertaler, sondern ein Schauspieler, der einen Schauspieler spielt, der einen Neandertaler spielt (wenn ich das richtig verstanden habe). Denn „Neanderthal - Das Mettmann-Musical“ spielt nicht etwa vor 40.000 Jahren, sondern im Jahr 2099, in dem das „Neanderthal“ wiedereröffnet – als Freizeitpark. In Hüves Geschichte sind die Menschen vor einer aus den Fugen geratenen Natur in hochtechnisierte Städte unter der Erde geflüchtet und können nur noch in Schutzanzügen die Erdoberfläche betreten – anders im unter einer gewaltigen Kuppel rekonstruierten Neanderthal, einer beispiellosen Sensation.

Im Gegensatz zur Bühnenhandlung, bei der schnell Kritiker auf den Plan traten, begeisterte das Musicalprojekt die ganze Stadt. Ursprünglich war es als Beitrag zur 25-Jahr-Feier der Mettmanner Musikschule gedacht. Im September 1998 begannen rund 130 zumeist junge Leute mit den Proben in den Sparten Tanz, Chor, Orchester und Schauspiel. „Angeleitet von professionellen Theaterleuten, Musikern und Tänzern und unter der organisatorischen Leitung der städtischen Kulturabteilung, sollten die künstlerischen Fähigkeiten von Laien so weit gefördert werden, dass mit einer professionellen Aufführung ‚aus eigener Kraft‘ ein neuer Akzent im Veranstaltungsangebot der Stadt Mettmann“ gesetzt wird, schreiben der damalige Bürgermeister und Stadtdirektor in ihrem gemeinsamen Grußwort etwas hüftsteif: „Gleichzeitig wird damit das Ziel verfolgt, Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Alters aktiv an der Gestaltung des kulturellen Lebens zu beteiligen. Damit beschreitet die Stadt Mettmann einen neuen Weg in ihrer Kulturpolitik.“

Komplettiert wurde das Laienensemble durch einige hinzugekaufte Profis wie Alexander Schottky, der eine kleine Rolle in der RTL-Krankenhauscomedy „Nikola“ spielte. Mit ihm teilte ich mir in der heißen Phase der Produktion eine Garderobe in der Neandertalhalle, weil er leichtsinnig genug war, mir dies anzubieten, nachdem ich ihm gegenüber die menschenunwürdige Situation in der Massengarderobe angeprangert und altklug etwas von Zweiklassengesellschaft gefaselt hatte.

Knapp sieben Jahre später rufe ich ihn an – im Irrglauben, er könnte mir aus seiner Außenperspektive irgendetwas über Mettmann und das Neandertal erzählen, was ich nicht schon weiß. Stattdessen empfiehlt er mir den Motivationsfilm „The Secret“ und erzählt, dass der Mars am 27. August von der Erde aus genau so groß aussehen wird wie der Vollmond.

Um zu beweisen, dass es blöde Fragen eben doch gibt, brauche ich nur einen Versuch: Hat Mettmann wegen des nahen Neandertals eine besondere Aura? Mein unbedingter Wille, die Hysterie um das 150. Jubiläum der Knochenfunde doch noch irgendwie zu verstehen, geht mit mir durch. Schottky hat Mitleid und redet mir nach dem Mund. Bühnenbildner Gerrit Schulze Uphoff nimmt mir als Erstes den Wind aus den Segeln: „Mettmann ist doch durch die Knochenfunde keine heilige Stadt geworden.“ Und Regisseur Roland Hüve, mittlerweile Oberspielleiter am Theater Augsburg, ergänzt: „Der Neandertaler heißt Neandertaler, weil die ersten Knochen zufällig dort gefunden wurden.“

Diese Sätze sollte man auf Flyer drucken und sie über dem Mettmanner Rathaus abwerfen. Denn die Stadtverwaltung prahlt auf ihrer Website: „Das Neandertal gehört zu den wohl bekanntesten Orten in der Welt, hier wurde Menschengeschichte geschrieben.“

Man kann’s auch übertreiben mit dem Stadtmarketing. Eine dumme Idee wären zum Beispiel Einkaufsbeutel mit dem Aufdruck „Die Neanderthal-Stadt“ oder die Herausgabe einer Medaille namens „Neander-Taler“. Noch dümmer ist, dass es beides schon gibt.

DAVID DENK, 25, lebt als freier Autor in Berlin