Ich seh etwas, was du auch siehst!

Ein Menschheitstraum: Das Computerprogramm Google Earth verändert die Welt, indem es sie von oben zeigt, in teilweise erschreckender Detailschärfe. Wohin führt uns diese demokratisierte Überwachung aus der Totalen?

Ist das die letzte Anmaßung einer säkularisierten Gesellschaft? 26,9 Megabyte voller göttlicher Perspektiven und allmächtiger Übersicht. Das Computerprogramm Google Earth erlaubt die Beobachtung der Welt aus der Vogelperspektive. Und erreicht dabei eine erschreckende Detailschärfe, so unverstellt nah rückt der eigene Computer den fernen Orten auf die Pelle.

Autos etwa sind in den hochauflösenden Luftbildern bereits deutlich zu identifizieren. Mein eigenes habe ich gleich zweimal gefunden. Einmal in Kreuzberg, ein weiteres Mal im beschaulichen Varrel, zur Hälfte von einer stattlichen Eiche verdeckt. Fast so, als habe es sich vor dem durchdringenden Blick der Satellitenkamera verstecken wollen.

Tatsächlich begleiten Neugier und Schamgefühl den Flaneur durch diese mehr als bloß virtuelle Welt. Denn gerade dadurch, dass man zu fast intimen Blicken eingeladen wird, fühlt man sich plötzlich selbst beobachtet. Und vergisst für Momente, dass die Satellitenbilder, aus denen sich das Weltbild von Google Earth zusammensetzt, keine Momentaufnahmen sind. Zwischen einigen Monaten und circa drei Jahren ist etwa das digital reproduzierte Deutschland alt.

Ein Land vor der Aufbruchstimmung einer Fußballweltmeisterschaft. Noch ist die Allianz Arena nur eine Großbaustelle am Nordrand Münchens. Und ähnelt so aus einiger Höhe betrachtet frappierend einer anderen Baugrube: dem Ground Zero an der Südspitze Manhattans. Denn die Vogelperspektive ist kein empathischer Blickwinkel. Sie zeigt topografische Aggregatzustände einer Welt und fragt nicht nach ihrem Sein und Werden. Wenngleich der Italiener Luca Mori auf den Luftaufnahmen der Umgebung seiner Heimatstadt Parma tatsächlich das Fundament einer antiken Villa entdeckt hatte.

Jene Pressemeldung aus dem vergangenen September gilt als der erste dokumentierte Fall, in dem sich Google Earth aktiv in die bebaute Oberfläche der Erde eingegraben hat. Inzwischen haben solche Eingriffe Konjunktur. Gerade erst bemerkten Internet-User einen hakenkreuzförmigen Brunnen in der belgischen Kleinstadt Maasmechelen. Nun wird die 27 Jahre alte Anlage umgestaltet – in der Form eines vierblättrigen Kleeblatts, auch das werden die Google-Earth-Kameras dokumentieren.

Überhaupt ist davon auszugehen, dass das 1996 von der Softwareschmiede Keyhole entwickelte und vor zwei Jahren an den Suchmaschinisten Google verkaufte Programm die Draufsicht der Welt verändern wird. Hochhausdächer werden als Werbefläche vermietet, politische Parolen in Weizenfelder gemäht, weil doch die ganze Welt dabei zuschauen könnte. Und das in einer maximalen Auflösung von 7,5 Zentimetern pro Pixel, in der in der aktuellen Version bereits die Golden Gate Bridge oder der Frankfurter Flughafen dargestellt werden. Das kleine Ganderkesee bei Delmenhorst ist derweil die einzige deutsche Gemeinde, von der Google Earth noch keine Luftbilder zur Verfügung stellt. Was in Internetforen zu lustigen Verschwörungstheorien geführt hat.

Roland Barthes hat sein Paris am liebsten von der Aussichtsplattform des Eiffelturms studiert (oder aber vom Rand der Tanzflächen zwielichtiger Nachtlokale). Johann Wolfgang von Goethe ist nach seiner Ankunft in Straßburg erst einmal auf den Domturm geklettert, um sich ein Bild von der Stadt zu machen. Petrarca hat den Mont Ventoux bestiegen, um die Welt zu seinen Füßen zu ergründen. Von oben, so waren sich die drei sicher, würden sie vieles genauer erkennen. Den Rhythmus der Häuser, das Treiben der Menschen, die Ordnung der Dinge, das Wesen der Existenz.

Die Vogelperspektive war lange Jahre die Perspektive der Aufklärer, die Perspektive der Aufklärung. Im militärischen Sinne ist sie das bis heute geblieben. Die so genannten Aufklärungssatelliten pflegen jenen panoptischen Blick, dessen Wesen Michel Foucault als Erster so intensiv beschrieben hat. Vom Auge Gottes zu den Augen der Überwachungskameras. Von der Angst vor dem Übermenschlichen zur Angst vor dem Menschen – den Menschen auf beiden Seiten der Kameras.

Letztlich bleibt Google Earth dabei nur eine Metapher auf die allgegenwärtige Kontrollgesellschaft – nicht ihr Symptom. Denn vor den zeitversetzten Standbildern des Satellitenbilderdienstes braucht (noch) niemand Angst zu haben. Wahrscheinlich aber vor der Tatsache, dass ein solch tiefblickendes Computerprogramm einfach so aus dem Internet herunterzuladen ist. Für alle und für jeden.

Über welche Technologien verfügen demnach erst jene, die an der Betrachtung der Welt mehr militärische als voyeuristische Interessen haben? Auf wessen Monitoren flimmert die wirkliche Truman-Show? Als Film, mit Ton, in Echtzeit?CLEMENS NIEDENTHAL