Die Überperson

Günter Grass sieht sich zur „Unperson“ gemacht – ein schiefes Bild: „Unpersonen“ wurden aus dem öffentlichen Bewusstsein entfernt, bei Grass passiert das Gegenteil. Anlass für eine kleine Wortkunde

VON CHRISTIAN SEMLER

Erst haben die Ankläger zum Kompressor gegriffen. Grass’ jahrzehntelanges Schweigen zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS wurde von der Rechten zur Katastrophe des Schriftstellers als moralischer Person aufgeblasen. Jetzt ist es der Beschuldigte selbst, der kräftig die Luftpumpe betätigt. Günter Grass klagte im Interview, er solle mittels einer Kampagne zur „Unperson“ gemacht werden.

Die „Unperson“ entstammt dem düsteren Begriffsarsenal von George Orwells „1984“. Orwell richtet den Blick auf die Praxis des sowjetischen wie des Nazi-Regimes, die Existenz der als Feinde Stigmatisierten noch zu deren Lebzeiten im öffentlichen Bewusstsein wie im Gedächtnis der Archive auszulöschen. Die „Unperson“ beim Namen zu nennen, ja, nur an sie zu denken, galt in der Orwell’schen Welt als Verbrechen. In der realen Welt des Totalitarismus machte sich strafbar, wer es verabsäumt hatte, die Werke der „Unpersonen“ aus seiner Bibliothek zu entfernen, gar Fotos der „Unpersonen“ aufhob.

Speziell in der Sowjetunion gab es die Anweisung, mittels Rasierklingen Artikel über die jeweils entlarvten Verräter und Spione aus der „Großen Sowjetenzyklopädie“ herauszutrennen. Und in den Fotoarchiven des großen sowjetischen Avantgardisten Aleksandr Rodtschenko hat man Fotografien Verfemter gefunden, die, in panischer Angst vor Hausdurchsuchungen, eingeschwärzt worden waren.

Bewusst hat Grass nicht zu dem älteren, vortotalitären Begriff des „zivilen Todes“ samt dessen Rechtsfolgen gegriffen, um die gegen ihn gerichtete Kampagne zu charakterisieren. Die Lächerlichkeit eines solchen Vorwurfs, die Unvereinbarkeit des „zivilen Todes“ mit den Menschen- und Bürgerrechten in Deutschland, hätte auf der Hand gelegen. Grass bediente sich vielmehr des mit Assoziationen aus dem Geist des Totalitarismus getränkten Begriffs der „Unperson“, weil sich dieser, metaphorisch bezogen auf unsere Zeit, besser einsetzen lässt. Denn er behält stets seinen unheilschwangeren Beigeschmack aus totalitären Zeiten.

Die Grass’sche Angst, im Falle des Erfolgs der gegen ihn gerichteten Kampagne sein Leben als „Unperson“ fristen zu müssen und aus dem Gedächtnis der Nation gestrichen zu werden, ist einfach nur komisch. Stellen wir uns die „Unperson“ Grass vor, wie er anlässlich der nächsten Buchmesse Tausende von Exemplaren seiner Biografie signiert. Bekanntlich war den „Unpersonen“ in den KZs und den Lagern der Gebrauch des eigenen Namen verwehrt, fungierte er doch als Zeichen ihrer personalen Identität. Um Grass’ personale Identität als „Unperson“ brauchen wir uns wirklich keine Sorgen zu machen.