Stadt des Gedächtnisses

Von der Kunst der Kollaboration: Ein Nachtrag zur Berliner Ausstellung „Berlin-Tokyo/Tokyo-Berlin. Die Kunst zweier Städte“, die dem Pakt zwischen Hirohitos Japan und Hitlers Deutschland mit befremdlichen Ausweichmanövern begegnet

von STEPHEN GREENBLATT

Im Juni entfloh ich in Berlin der Fußballweltmeisterschaft und verbrachte einen Nachmittag im Museum. Obwohl mich die Fußballmania gar nicht besonders störte, war es angenehm, sich vor den Videoleinwänden der Cafés und den lärmenden Menschen in den Straßen in der kühlen, rationalen Stille von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Sicherheit zu bringen. Dass meine Reise nach Berlin über Tokio geführt hatte, verstärkte nur mein Interesse an der aktuellen Ausstellung „Berlin-Tokyo/Tokyo-Berlin. Die Kunst zweier Städte“. In der japanischen Hauptstadt hatte ich die Übernahme eines Theaterstücks gesehen, dessen Koautor ich bin. Ohne auf die Umstände der Aufführung weiter einzugehen, sei nur gesagt, dass der Autor und Regisseur Akio Miyazawa mein Stück zugleich kopiert und umgedreht hatte, sodass der Effekt einem Fotonegativ gleichkam. Ich dachte, ein ähnlicher Effekt sei auch in „Berlin-Tokyo/Tokyo-Berlin“ zu finden, und zwar nicht nur in der japanischen Antwort auf den Westen. Doch in der Begegnung der beiden Städte verstärkten sich nur die Unterschiede und die Fremdheit der jeweiligen Sichtweisen.

An einem Punkt freilich schienen sie sich zu treffen. Jeder Versuch, die Geschichte des kulturellen Austausches zwischen Berlin und Tokio in den letzten hundert Jahren nachzuzeichnen, muss zweifellos sein Zentrum in jenen Jahren haben, in denen die Achsenmächte Deutschland und Japan politisch und militärisch verbündet waren – woraus auch die wachsende Spannung beim Rundgang durch die Raumfolgen resultiert: Von der begeisterten Rezeption der japanischen Kunst durch die europäische Moderne in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg über die Ausstellung der Avantgardekünstler der Zeitschrift Der Sturm in Tokio und ihren elektrifizierenden Einfluss auf die jungen japanischen Maler bis zu den Experimenten der 20er-Jahre, sei es in Architektur, Fotografie oder Film. Muss diese Abfolge nicht in den Jahren kulminieren, in denen Japan und Deutschland die Welt zu erobern versuchten?

Aber genau hier, unter dem Titel „Totalitarismus und Krieg“, stieß man nicht so sehr auf eine Leerstelle als vielmehr auf ein befremdliches Ausweichmanöver. Keine Spur einer Kunst, die die Achse feierte, keine Spur der heroischen Bilder von den muskulösen Männern und Frauen der faschistischen Zukunft war zu entdecken; kein Arno Breker oder Fujita Tsuguji oder andere Künstler, die Militarismus und Krieg glorifizierten. Stattdessen zeigte der Ausstellungsraum eine kleine Anzahl melancholischer Bilder von Hunger, Verzweiflung und Tod, begleitet von folgender kurzer Information auf Englisch und Deutsch:

„Eine nationalistische, antikommunistische Politik verband Japan und das nationalsozialistische Deutschland in den 1930er- und 1940er-Jahren. Schon 1936 wurde zwischen beiden Ländern der Anti-Komintern-Pakt als Bündnis gegen die Sowjetunion geschlossen. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs folgte unter Beteiligung Italiens der Dreimächtepakt, der sich gegen die USA richtete. 1941 trat auch Japan in den Krieg ein. Es kapitulierte im August 1945 nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Sowohl die innen- als auch die außenpolitischen Konflikte sowie die grausamen Erfahrungen des Krieges fanden in der Kunst beider Länder ihren Niederschlag in einer stilistischen Bandbreite zwischen Symbolismus, magischem Realismus, Surrealismus bis hin zu traditioneller japanischer Malerei.“

So viel zu den gemeinsamen Träumen von der Weltherrschaft; so viel zu den Nürnberger Gesetzen, zu Pearl Harbor, der Invasion in Polen, der Besetzung von Nanking; so viel zu den brutalen Plünderungen, dem Mord an Millionen, den rassistischen Ideologien, die sich darin trafen, diejenigen zu versklaven, die nicht gleich vernichtet wurden. Streng genommen ist die Charakterisierung von Hirohitos Japan und Hitlers Deutschland nicht falsch – beide Regime teilten „eine nationalistische, antikommunistische Politik“, und Japan kapitulierte infolge der Atombombe – zugleich ist sie aber eine groteske Lüge. Während ich vor dem Text stand, tauchte plötzlich, als ob ich ihn herbeibeschworen hätte, ein deutscher Bekannter auf; ein Historiker meines Alters, einer jener unaufdringlichen und wachen Berliner, die das Leben hier so angenehm machen. „Erschreckend, nicht wahr?“, sagte er ruhig und fügte leise hinzu, „das ist die Konsequenz aus der Wiedervereinigung.“ Erstaunt fragte ich: „Wie kommen Sie darauf? Warum sollte jemand aus Ostdeutschland diesen Text geschrieben haben?“ – „Sie wuchsen im Glauben auf, als Kommunisten hätten sie nichts mit dem Faschismus zu tun. Daher haben sie sich ihrer Vergangenheit nie wirklich gestellt.“ – „Ich denke, das stammt von japanischer Seite und ist der Versuch, die deutsche Vergangenheitsbewältigung zu imitieren, der nur dazu führte, sie zu negieren“, antwortete ich. „Sie haben“, sagte er, „einen rührenden Glauben in die deutsche Aufrichtigkeit.“

Wieder zu Hause, schickte ich eine E-Mail an das Pressebüro der Nationalgalerie, in der ich fragte, wer denn tatsächlich den Text verfasst habe. Die Antwort war nichtssagend. „Die ursprünglichen Texte, die für den Wandtext der Ausstellung zusammengefasst und gekürzt wurden, stammen sowohl von japanischen wie deutschen Kuratoren.“ Es lebe die Kunst der Kollaboration!

Gekürzter Vorabdruck aus „The Threepenny Review“, Berkeley. Übersetzung: Brigitte WerneburgStephen Greenblatt (geb. 1943 in Cambridge/Massachusetts) gilt als führender Theoretiker des New Historicism und hat einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft in Harvard inne. Stephen Greenblatt ist Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Letzte deutsche Veröffentlichung: „Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde“, Berlin 2004