Das Leben als Krankenakte

Bedenkenlos schwimmt man in der Zeit, und dann sinkt man und stirbt: In seinem neuen Roman „Jedermann“ beschreibt Philip Roth das Leben als Abfolge von Krankheiten mit tödlichem Ende

Roths Jedermann zeichnet sich durch Altersgleichmut, Altersstoizismus, Altersdemut aus. Das Leben ist so, wie es ist: eine Reihe von Fehlern

VON GERRIT BARTELS

Am Ende jedes menschlichen Lebens steht der Tod. Sicher, unverrückbar, aller Gentechnik und allen Stammzellenrevolutionen zum Trotz. Nur folgerichtig, dass „Jedermann“, der neue Roman von Philip Roth, mit dem Tod seines Helden beginnt, erzählt dieser Roman doch von nichts anderem als der Sterblichkeit eines Menschen, von den Tücken des Alters und den zunehmenden Unvollkommenheiten des Körpers. Kurzum: von einem Leben, das ein bedenkenloses Schwimmen in der Zeit ist, und dann sinkt man und stirbt.

Eine Beerdigung auf einem heruntergekommenen jüdischen Friedhof in New York: Roths Jedermann, ein ehemals erfolgreicher Werbetexter, ist gerade unter die Erde gebracht worden. Am Grab stehen seine drei Exfrauen, die Tochter aus der zweiten Ehe, die Söhne aus der ersten, sein Bruder und ein paar Menschen, die ihn gekannt haben. Eine Beerdigung wie so viele andere auch, eine Routineveranstaltung, „nicht mehr und nicht weniger interessant als alle anderen. Aber es ist ja gerade das Alltägliche daran, was am meisten schmerzt, die wieder einmal erneuerte Erkenntnis der Unabweislichkeit des Todes, die alles überwältigt.“

Und dann hebt er an, dieser Jedermann von Philip Roth, der keinen Namen hat, und erinnert sich seines weder besonders spektakulären noch außergewöhnlich unspektakulären Lebens. Am Anfang steht ein Krankenhausaufenthalt, der kleine Jederjunge muss sich einer Operation an der Leiste unterziehen, ein Leistenbruch. Eine prägende Erfahrung, keine Frage, so eine Operation in jungen Jahren, die Vorbereitungen, die Gefühle im Vorfeld, die Angst davor. Allerdings ist auch die nächste bedeutende Erinnerung von Roths Jedermann eine, die mit einer „Unpässlichkeit“ zu tun hat, da ist er schon 34 Jahre alt. Sie stellt sich als ein Blinddarmbruch mit Bauchfellentzündung heraus, erfahren wir, gefährlich, aber noch rechtzeitig erkannt und operiert. 22 Jahre vergehen, „bei bester Gesundheit“ und erfüllt von jener grenzenlosen Selbstsicherheit, die aus dem Fitsein erwächst. 22 Jahre, für die Jedermann ein paar dünne Worte übrig hat: Was soll schon groß passiert sein?

Wichtiger in seinem Leben sind die heftige Atemnot, die er als Mittfünfziger hat, die Diagnose „Koronarstenose“, schließlich eine fünffache Bypassoperation, und überhaupt gibt es im Folgenden in Jedermanns Leben nichts Wichtigeres als Krankheiten: Hypertonus, Nierenarterienverschluss, Carotisarterienverengung links mit anschließender Stent-Operation, ein Krankenhausaufenthalt und noch einer und so weiter bis zum Tod. Zumindest ist dieser ein schneller, schmerzfreier: Jedermann geht rein in die Narkose und kommt, ohne es zu merken, nie wieder heraus.

Nun weiß man aus den letzten Philip-Roth-Romanen, dass Roth keine körperliche Erkrankung fremd ist, seien es die Prostatabeschwerden von Nathan Zuckermann in der „Amerikanischen Trilogie“ oder die Brustkrebserkrankung von David Kepeshs junger Geliebter Consuela in „Das sterbende Tier“. Und dass ein über 70-Jähriger Romancier so seine medizinischen Erfahrungen hat, kann man sich auch denken. Aber einen Roman vor allem als eine dicke Krankenakte anzulegen, ihn durch die Malaisen des Körpers zu konstituieren? Ein Leben reduziert auf eine Krankenakte? Roth kennt da nichts. Doch wäre er nicht einer der größten amerikanischen Erzähler, würde er zum einen nicht die Lücken in der Krankenakte mit sparsamen, aber hinreißenden Erinnerungen an Jedermanns Leben auffüllen, an den Juwelenladen seines Vaters etwa, (immer ganz groß bei Roth, wenn sich ältere Männer ihrer Jugend und ihres Elternhauses erinnern!). Würde er zum anderen nicht hintersinnig große Sätze platzieren, etwa dass Jedermann seinen schmerzfreien Tod „von Anbeginn“ befürchtet hatte – selbst die intensive Erfahrung des Sterbens bleibt ihm eben verwehrt. Und würde Roth zum Dritten nicht den Rest von Jedermanns Leben in einer sich von Seite zu Seite steigernden Alterssinnlosigkeit zuspitzen.

Ja, doch, Jedermann hat ein Leben gehabt, die drei Frauen und sein Beruf zeugen davon. Und er hat sich nicht sehr geschickt verhalten in Liebesdingen, gerade die Liebe zu seiner dritten Frau war nur eine Illusion, die auf Sex basierte und im Eheleben schnell zerstob – Philip Roth hat in der kurzen Schilderung dieses Ehebruchs selbstredend etwas Martin-Walserhaftes. Selbstredend, weil in Walser schon immer ein Roth steckte und vice versa. Einer wie Zuckermann war bis zu seinen Prostatabeschwerden ein Hahnrei sondergleichen, und Roth konnte nie genug von wilden, männlich dominierten Sexszenen in seinen Romanen bekommen.

Da er aber zuletzt statt Zuckermann seinen David Kepesh die Liebesbeziehung eines alten Mannes zu einer viel jüngeren, umwerfend schönen Frau hat führen lassen („Das sterbende Tier“) und das Thema abgehandelt ist, kann er sich jetzt kurz fassen und es bei einem letzten Aufbäumen Jedermanns belassen, ohne allzu peinlich und seiernd zu werden: Jedermann, der, wie es sich für einen amerikanischen Jedermann gehört, nach dem 11. 9. angstvoll Schutz in einem Altersidyll an New Jerseys Küste gesucht hat, bändelt bei seinem täglichen Spaziergang noch einmal erfolgreich mit einer viel jüngeren Joggerin an. Nur sehen tut er diese, trotz Telefonnummernaustauschs, nie wieder, sie hat sich eine andere Laufroute gesucht.

Wo Martin Walser seine Helden mit dumpfer Wut gegen den Tod und der Weigerung, diesen zu akzeptieren, ausstattet und diese durch ewigen Sex mit ewig jüngeren Frauen ihre ewige Jugend bestätigen, da zeichnet sich dieser Roth’sche Jedermann durch Altersgleichmut, Altersstoizismus, Altersdemut aus: Das Leben ist so, wie es ist, es besteht aus lauter, nicht wieder gutzumachenden Fehlern, und dann kommt der Tod. Immerhin können wir uns noch darüber informieren, wo unsere Gebeine oder unsere Asche mal landen, und wie so ein Grab ausgehoben wird, wie es vermessen wird und so weiter. Jedermann will da am Ende auf dem Friedhof seiner Eltern wirklich alles von dem professionellen Grabschaufler wissen.

Das ist ein letzter kleiner souveräner Akt, den er hier vollführt, ein letzter Sieg über den gebrechlichen Körper, und zumindest der hat was Tröstliches. Ansonsten muss man stark sein, um nach der Lektüre dieses Buches nicht eine erste Altersdepression zu bekommen.

Philip Roth: „Jedermann“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München 2006, 172 Seiten, 17,90 Euro