Der Kuss des Gottesnarren

Am Eingang der Moschee zu stehen, das konnte R. keiner verwehren. Je länger er hier stand, desto unsichtbarer kam er sich vor

VON STEFAN WEIDNER

Als die Bildungsreisenden den Eingang der Karawiyine-Moschee erblickten, wies ihr Führer Nassib sie darauf hin, dass sie nicht hineingehen durften. Wie alle Moscheen in Nordafrika war auch die Hauptmoschee Fes für Nichtgläubige gesperrt. Hammerkohl wollte darin eine Grund zur Beschwerde erkennen, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit der Marokkaner. Den Muslimen stünden schließlich in Europa die Kirchen offen. Dass man ihnen selbst den Besuch verbiete, sei eine umso dreistere Diskriminierung, als die Touristen Devisen brächten, ohne die alles Sehenswerte im Nu verfallen würde. Touristen mit den Schönheiten anlocken, das gerne, was? Aber dann ihnen die Hälfte dieser Schönheiten vorenthalten, wegen einer rückwärtsgewandten religiösen Mentalität, eines seit je in dieser Religion angelegten Rassismus!

Monsieur Ammerkohl, sagte Nassib mit dem ihm eigenen verschmitzten Ernst, Sie haben wie immer recht und unrecht zugleich. Die Kirchen in Europa stehen den Marokkanern offen. Europa jedoch ist verschlossen. Versuchen Sie einmal als gewöhnlicher Afrikaner, ein Touristenvisum mit der Begründung zu bekommen, dass Sie die Kirchen besichtigen wollen! Überhaupt, Monsieur Ammerkohl, Sie haben sogar doppelt unrecht: Die Vorschrift, die es Christen verbietet, die Moscheen zu betreten, geht auf das Konto der Franzosen, der muslimischen Mentalität ist sie fremd; dieses Gesetz besteht nur dort, wo die Franzosen ihre Füße hingesetzt haben. Was die Franzosen damit bezweckten? Mais n’êtes pas naïf! C’est la ségrégation. Jeder sollte die Illusion haben, es gebe den anderen nicht.

Das Gedränge war größer geworden, die Gassen verengten sich zu Korridoren, regelrechten Tunneln. Jeder der Besucher entdeckte etwas für sich, irgendein Detail, das gerade ihn interessierte, sodass jeder nur auf das achtete, was er gerade vor sich sah. Farbige Kacheln, Inschriften, verzierte Fensterchen mit einer Reliquie oder einem anderen undeutbaren Gegenstand der Verehrung. Der Andrang war so groß, als würde etwas verschenkt werden, und so verhielt es sich: Segen wurde verschenkt. Nur daran glauben musste man, aber was sprach dagegen, kaum glaubte man, hatte man dieses gute Gefühl, dass alles in Ordnung käme und womöglich längst sei.

Auch R. fluchte über das Verbot, die Moschee zu betreten. Aber am Eingang zu stehen konnte ihm keiner verwehren. Je länger er stand, desto unsichtbarer kam er sich vor. Die Bettler beachteten ihn nicht, die sich zu Wärtern aufspielenden Nichtsnutze nicht und selbst neu Hinzukommende gönnten ihm keinen Blick. Was hinderte ihn, die Identität zu wechseln und einer von denen zu werden, die eintreten durften?

Ohne nachzudenken, stieß er sich von seiner Wand ab, schritt mit der größten Zielstrebigkeit auf das Portal zu, trat die drei Stufen herab und gelangte in die Dunkelheit der Vorhalle. Erst als er schon im Hof war, wurde einer der Wächter auf ihn aufmerksam. Doch statt mit Entschiedenheit zu erklären, dass es ihm verboten sei, hier einzutreten, schien er unsicher und fragte nur: Vous êtes musulman? R. sagte nur: Al-hamdu lillah – Gott sei Dank!

Sobald er die Schwelle übertreten hatte, baute sich ein Druck in ihm auf, als würde er langsam durch eine unsichtbare Wand gehen, immer tiefer ins Meer der Zeit. Es war noch nicht lange her, dass der Lehrbetrieb aus dem Gelände der Moschee, die zugleich eine der ältesten Universitäten der islamischen Welt war, auf einen modernen Campus in der Neustadt verlegt wurde. Nach wie vor aber versammelten sich hier Gelehrte und einige Schüler, die auf eine offizielle Universitätsausbildung keinen Wert legten, zu Lektionen um die Säulen.

Nach der gleißenden Helligkeit draußen im Hof fühlt R. sich in der Schattigkeit des Gebetssaals nahezu blind. Langsam bewegte er sich durch die Halle. Wie angenehm war es, mit bloßen Füßen über die Teppiche zu laufen. Nach einiger Zeit setzte er sich an eine der leeren Säulen. Er spürte, wie sich die Müdigkeit in ihm ausgoss, und beinahe schlief er ein.

Unbestimmte Zeit später hörte er von weit her das Klappern eines Stocks, der gegen einen Stein geschlagen wurde. Die Schläge kamen näher, bis sie plötzlich direkt über ihm waren, dazu erklang eine krächzende Stimme: Ya Nâ’im, ya Nâ’im – he, Schläfer! Es war ihm unmöglich, zu entscheiden, ob er träumte. Seine Augen waren geschlossen, er spürte eine Berührung an der Seite, zunächst leicht, dann wurde ihm der Stock in die Rippen gebohrt, kräftig genug, um ihn aufschrecken zu lassen. Steh auf, Schläfer, sagte der Faulpelzjäger. Hier wird nicht geschlafen, verstanden? R. rappelte sich auf. Er war tief in den Gebetssaal hineingeraten.

Im rückwärtigen Teil, nur zwei bis drei Säulenreihen weiter, sah er Gruppen von Männern um die Säulen hocken. Bei den Säulen, um die die Kauernden sich gesammelt hatten, stand jeweils einer und sprach. Alle waren in traditionelle Burnusse gekleidet, schienen barfuß und trugen Bärte und Turbane, unter denen verblüffend langes Haar hervorwallte: Sufis. Viele Dunkelhäutige, um nicht zu sagen Schwarze, waren darunter. Auch die hatte R. vorher im Stadtbild nicht wahrgenommen. Vorsichtig, um nicht aufzufallen, näherte er sich, bis er die Stimmen unterschied. Ein neben der Säule Stehender trug in freier Rede leise, aber mit größter Intensität etwas vor. Um zu verstehen, musste R. näher heran. Keiner beachtete ihn, und ihn überkam wieder das beruhigende Gefühl, nur Ausgewählten sichtbar zu sein. Er vernahm feierliches, leicht dahingesprochenes Hocharabisch. Die in die Rede gestreuten Koranverse waren fast gesungen.

Seine Aufmerksamkeit fiel auf einen mit langen Haaren und strähnigem Bart, ungepflegt und fast unzüchtig nur von Fetzen bekleidet. Er wirkte noch abgemagerter als die Übrigen, und als Einziger lief er zwischen den verschiedenen Gruppen hin und her. Stets setzte er sich neben einen der Zuhörenden, tippte ihn von der Seite an und versuchte, mit ihm ein Gespräch zu beginnen. Der ignorierte ihn, bis der Mann aufgab und weiterging. Bevor er ging, küsste er den Sitzenden mit feierlicher Geste auf den Kopf. R. vermutete, dass es sich um den Moscheenarren handelte, einen sogenannten Madjsub, einen der Verrückten, die für heilig erachtet wurden.

R. hätte gerne gewusst, was er zu den Studenten sagte, näherte sich unauffällig dem Kreis von Zuhörenden, der, wie er annahm, als Nächstes von dem Narren angesteuert werden würde. Jetzt, wo R. genauer beobachten konnte, was geschah, erkannte er, dass der Verrückte sich ganz nah an das Gesicht des Angeredeten heranbeugte, als wollte er ihn auf den Mund küssen, was er jedoch nicht tat. R. verstand aus der Entfernung nur das arabische Wort für „Geruch“. Der Narr wollte eine Antwort, aber die meisten blieben ruhig und ließen sich nicht ablenken. Diejenigen hingegen, die antworteten, wurden schneller abgefertigt, der Narr murmelte etwas, küsste und sprang weiter.

Als er den Nächsten belästigte, verstand R. schon etwas mehr. Riech, riech, verrate mir, wie mein Atem riecht!, sagte der Madjsub seinen zur Formel geronnenen Spruch auf. Sage mir, wie mein Atem riecht, und ich sage dir, wer du bist. Er bekam eine Antwort, schien enttäuscht, besann sich, küsste den Kopf des Antwortenden und schritt zum Nächsten, jetzt direkt vor R.. Das gleiche Spiel wie zuvor, aber diesmal antwortete der Belästigte nicht und lauschte nur konzentriert auf den Vortrag. Der Madjsub redete entsprechend länger auf ihn ein, und R. verstand besser. Sag mir, ob du es bist, rieche meinen Atem, und ich sage dir, wer du bist. Ich faste, und doch, mein Atem riecht gut, allein, wer hat Sinn dafür? Hat nicht der Prophet, Gott segne ihn und spende ihm Heil, gesagt, dass der Atem des Fastenden, obwohl er für Menschen so ekelhaft riecht, der reinste Duft ist für Gott?

Jetzt glaubte R., zu verstehen. Er hatte tatsächlich einmal eine Stelle in Ibn Arabis Hauptwerk, den „Mekkanischen Eröffnungen“ gelesen, wo ein Prophetenspruch interpretiert wird, der besagt, dass der übelriechende Atem der Fastenden für Gott der äußerste Wohlgeruch sei. Jetzt hätte R. gehen können. Doch er blieb sitzen. Seine Neugier war zu groß.

Das Einfachste, sagte sich R., wäre, ebenfalls eisern zu schweigen, wenn der Mann auf ihn zukam. Da hockte sich der Madjsub schon bei ihm nieder, ergriff mit seiner knochigen, überaus kräftigen Hand R.s rechten Oberarm und begann, auf ihn einzureden. Der Griff war so fest und entschieden, dass R. sich sofort ausgeliefert fühlte. Der Gottesnarr würde den Touristen nur zu seinen Bedingungen gehen lassen. So lange hatte er auszuharren. Das allerdings, dämmerte ihm, würde unmöglich sein, und sofort begriff er, warum zuvor nicht alle einfach geschwiegen hatten: Der Madjsub stank am ganzen Körper. Er fastete nicht nur, er wusch sich auch nicht. Offenbar gehörte er dem Sufi-Orden der Malamati an, derjenigen, die gezielt Tadel auf sich ziehen, um Eitelkeit zu bekämpfen. Es war ein Gestank, dem die Ausdünstungen aus den Gerbereien, die sie zuvor besucht hatten, an Fürchterlichkeit nicht einmal nahekamen. Der Geruch des Todes selbst, ausgestoßen vom Atem eines Lebendigen. Fliehen konnte R. nicht. Beim ersten Anhauch schon hatte er Anstalten gemacht, abzurücken, eine instinktive Bewegung rückwärts, und sofort hatte ihn die knochige Kralle fester gepackt. Minutenlang neben dem Anhauch auszuhalten war ein Ding der Unmöglichkeit.

In der Hoffnung, ihn dadurch loszuwerden, gab er die Antwort, die er für die einzig richtige hielt: Im Namen Gottes, dein Atem riecht gut, sehr gut sogar! Kaum hatte dieser das gehört, sprang er auf, riss ihn mit sich hoch wie eine Marionette und brüllte so laut, dass alle sich umwandten und schockiert auf die Szene starrten, die sich nun abspielte. – Er ist es, er ist es! Der Segen Gottes ruhe auf dir. Hört alle her, hört mir zu! Ich habe ihn gefunden. Er ist es, unser Mahdi, unser Erlöser, der Wiederbeleber der Religion. Oh, ihr Gläubigen, glaubt mir, er hat sich zu erkennen gegeben! Die Lehrenden an den Säulen unterbrachen ihren Vortrag. Die Hockenden machten Anstalten, aufzustehen, und starrten abwechselnd zu ihren Dozenten hin und zu R., der wie mit Handschellen an den Verrückten gekettet war und, kurz davor, in Panik auszubrechen, verzweifelt versuchte, sich loszureißen.

Er ist es, R.! Genau er! Hu Hu! Huwa Huwa! Er ist er! Du bist der Garten der Wissenden, der Trost der Vermissenden, das Ziel der Reisenden, das Schmecken der Speisenden, der Traum der Suchenden, die Wortmacht der Fluchenden, der Einsamen Trost, der Hungernden Kost, der Sehnenden Labsal, das Hoffen in Qual, das Erbe der Erbenden, das Jenseits der Sterbenden!

Alle hatten sich erhoben und angefangen, wild durcheinanderzureden. Ohne dich wäre kein Weg und keine Reise, kein Regen und keine Speise! Kein Schmecken und Trinken und Aufgehen und Sinken. Er ist R.! Huwa Huwa! Hört her! Ohne ihn ist kein Wo und kein Wer! Kein Dank und kein Bedankter, kein Gesunder, kein Kranker.

All dies sagte er in ohrenbetäubender Lautstärke auf, gleichwohl mit Rhythmus und völliger Kontrolle über das Gesagte. Der Madjsub war madjsub im wörtlichen Sinne des Wortes, „hinweggerissen“ von seiner Ekstase, schier außer Kontrolle. Im Halbkreis hatten sich die Studenten um das seltsame Paar versammelt, unschlüssig, was zu tun war.

Der Verrückte war jetzt vollends in Trance. Von dem, was um ihn herum vorging, merkte er nichts; seine Pranke war wie ein Eisenring um R.s Arm geschlossen, aber der Druck wurde nicht stärker, und mit einem Mal begriff R., dass es genügen würde, den Arm aus dem Ärmel seines Sakkos zu ziehen.

Dann ging alles sehr schnell. Nachdem er aus dem linken Ärmel geschlüpft war, wand er sich aus dem rechten, und während der Wahnsinnige wie eine deklamierende Schaufensterpuppe sein Sakko festhielt, rannte R. aus dem Gebetssaal, über den Hof, durch den Vorraum zum Ausgang hin.

Am ganzen Körper zitternd, mit dem Alarmgefühl, das ihn als Jugendlichen stets überkommen hatte, wenn er mit Büchern unter der Jacke an der Kasse vorbei aus den Buchhandlungen trat, trieb es ihn fort, und nichts wollte er dringender, als wieder ein ganz normaler, unauffälliger Jedermann zu werden, einer, der nichts verbrochen hatte, der nirgendwo auffiel und aneckte. Einer wie alle, wie alle außer ihm selbst.

STEFAN WEIDNER, Jahrgang 1967, ist Autor und Islamwissenschaftler und lebt in Köln. Die Erzählung stammt aus seinem jetzt im Ammann Verlag erscheinenden Buch: „Fes. Sieben Umkreisungen“ (208 Seiten, 19,90 Euro)