Hier bist du zu Hause

Die niederländische Firma Tempohousing hat die Wohnung zum Laptop entwickelt: Es ist ein Container. Amsterdamer Studenten wissen ihr flexibles Obdach zu schätzen. Ein neuer Lebensstil?

AUS AMSTERDAM MICHAEL STRECK

Es ist eine dieser Ideen, die beim zweiten Blick so simpel sind, dass man sich fragt, warum es bis zum 21. Jahrhundert dauerte, bis sie endlich umgesetzt wurden. Doch eben erst auf den zweiten Blick.

Der erste löst fast immer Stirnrunzeln aus. Wer in einem Container wohnen will, ist entweder obdachlos, auf dem Seeweg nach Südamerika oder Teil eines Kunstprojektes. So sind die gängigen Reaktionen. Denn ein Container ist zunächst der Inbegriff des Dreckigen, Kalten, Gleichmacherischen und Abgenutzten. Er ist ein Ding, das wie kaum ein anderes Transportieren und Lagern versinnbildlicht. Nicht jedoch Wohnen. Und wenn Wohnen, dann ein lausiges.

Doch 50 Jahre nach seinem Ersteinsatz erfährt die mobile und unverwüstliche Riesenbox eine neue Bestimmung. Anfangs waren es Architektur- und Designpioniere in den USA und Kanada, die aus dem metallenen Quader wohnliche Hüllen entwarfen. Diese Einzelprojekte, Häuser aus Blech für Freaks, machten bislang in der amerikanischen Weite von sich reden. Pioniere anderer Art sind in Amsterdam am Werke: Sie entwarfen und bauten das weltweit erste fertiggestellte Containerdorf. Für eintausend Menschen.

Auf den ersten, noch entfernten Blick sieht es wie eine Legolandwelt aus, die dort im Gewerbegebiet zwischen Kanälen und Autohäusern aufgebaut ist. Rot leuchtende Steine sind übereinandergestapelt zu großen Blöcken. Erst davor stehend erkennt der Betrachter die einzelnen Container. Die Wände der schmalen Enden sind entfernt, stattdessen gibt es Fenster. Metallbalkone und Metalltreppen verbinden die Containeretagen miteinander. Die Konstruktion erinnert, wenn auch etwas überdimensioniert, an eine arktische Forschungsstation, wären da nicht zwischen den Blöcken in den Innenhöfen die unzähligen Fahrräder.

Jolanda Klyn wohnt seit einem halben Jahr hier. Die große blonde 21-Jährige zog bei Mama aus und in den Container mit der Nummer 100012 ein. An der Universität von Amsterdam studiert sie Psychologie. Ein Apartment oder selbst ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft irgendwo in der Stadt kann sie sich nicht leisten. „Klar bin ich ein Container-Fan. Schließlich ist er mein erstes eigenes Zuhause“, sagt sie. Aber es ist mehr als das. Wie in einem richtigen Dorf auch sind die Sozialkontakte eng, man kennt sich, kann auf Zuruf kommunizieren. Ihr Freund lebt schräg gegenüber, in Sichtweite. Und vor der Tür gibt es einen Supermarkt und Fahrradladen. Aus weißen Containern zusammengeschraubt.

Als Jolandas Bruder ihr im Winter erstmals von der Möglichkeit, in einem Container zu wohnen, erzählte, fand sie die Vorstellung wenig reizvoll. Zu klein, zu dunkel, zu kalt, zu billig. „Wie auf einem Müllplatz leben, dachte ich damals.“ Doch die Realität war viel besser als die Fantasie. Die Metallwände sind weiß verkleidet. Eine Badzelle aus bunter Plaste, gegossen fast aus einem Stück, ist in der Mitte des Innenraums eingebaut. Dazu die übliche Ausstattung einer Wohnung: Küchenzeile, Einbauschrank, Heizung, selbst Internetanschluss. Vor dem hinteren Fenster steht ein breites Doppelbett. Es ist genug Platz für Regal und Tisch. Hell genug ist es auch. Nur die niedrige Decke sei „gewöhnungsbedürftig“. Aber sonst: dreißig Quadratmeter eigenes Glück.

Dieses verdankt Jolanda überwiegend Mathijs Resink, einem umgänglichen Geschäftsmann, der spielend ins Englische und Deutsche wechselt. Sein Container-Büro scheint extra gemütlich eingerichtet, als ob er beweisen wolle, wie wenig es sich von herkömmlichen Büroräumen unterscheidet. Der gelernte Jurist hatte mit einem Freund zusammen die Idee für das Containerdorf, als sein Neffe in Amsterdam studieren wollte, aber keine Wohnung fand. Der Wohnungsmarkt der Stadt gehört zu den teuersten in Europa, es fehlen 8.000 bis 10.000 Wohnungen für Studenten. In Unmengen vorhanden sind jedoch Container in den Hafenstädten von Amsterdam bis Antwerpen. Ausgediente und gebrauchte, die zu einem Stückpreis von 2.000 Dollar zu erwerben sind. Sie gründeten die Firma „Tempohousing“ und gewannen Universität und Stadtverwaltung für ihre Idee. „Zuerst dachten wir, es würde technisch ziemlich kompliziert sein, aus einem rohen Container eine angenehme Wohnung zu machen. Doch es war einfacher als gedacht“, sagt Mathijs Resink. Und preiswerter. Denn sie fanden eine Firma in China, die die Rohlinge in ein Obdach verwandelt und pro Tag acht Wohncontainer herstellen kann. Per Schiff werden sie schließlich nach Holland gebracht.

Der Aufbau des Containerdorfes geht dann schnell. Für Baulogistik und Vermietung arbeitet Tempohousing mit dem Immobilienunternehmen De Key zusammen. Je nachdem, wie hoch die Container gestapelt werden, muss ein Fundament ausgehoben werden, bis zu 26 Meter für die Fünf-Etagen-Version, erklärt Manager H. J. M. Groenemeijer. In einer Woche ist ein Wohnblock bezugsfertig, sind die Container übereinandergestellt, die einzelnen Einheiten miteinander verkabelt, Balkone und Treppen angeschraubt.

Da die Containersiedlung als temporäre Siedlung angelegt ist, darf sie laut Flächennutzungsplan in Industriegebieten aufgestellt werden; auch sind die Bauauflagen weniger streng. So ist zum Beispiel die Breite des Containers von 2,40 Metern normalerweise nicht für Wohnraum zulässig. Nach fünf Jahren muss das Dorf entweder abgerissen oder verlagert werden. Aufgrund der wachsenden Beliebtheit hat sich die Stadtverwaltung von Amsterdam allerdings bereit erklärt, nach Ablauf der Nutzungsdauer einen neuen Standort zur Verfügung zu stellen. „Das kann jedoch dauern, man kennt ja Verwaltungen“, sagt Groenemeijer. Er hofft auf mindestens acht Jahre Nutzungszeit – dann würde das Projekt Gewinn abwerfen.

400 Euro warm kostet das Containerleben. Die Universität subventioniert ein bisschen, so bleiben für die Studenten am Ende 280 Euro – eine Miete, die in Amsterdam nicht zu unterbieten ist. Kein Wunder, dass die Wartelisten lang sind. Zudem bieten die Container vieles von dem, was ein Studentenherz begehrt, das gerade das elterliche Heim verlassen hat. Sie sind bezugsfertig, zum Teil möbliert und robust für das wilde Studentenleben: Musik und Lärm dringen kaum durch die eisernen Wände nach außen. Anfängliche Sorgen, sagt Mathijs Resnik, die Metallhaut würde im Sommer eine unerträgliche Hitze produzieren, haben sich jedoch als unbegründet erwiesen. Wenn es hierfür je einen Härtetest gab, dann war es der vergangene Juli. Trotz der wochenlangen Hitze habe es nicht eine Beschwerde gegeben, die Isolierung zwischen den Metall- und Gipswänden hat offenbar bestens funktioniert.

Überhaupt ist die Wohnzufriedenheit hoch. Nach einer jüngst unter den Studenten gemachten Umfrage würden 48 Prozent ihren Container nach Ausbildungsende am liebsten kaufen und mitnehmen. Auch Jolanda Klyn: „Ich würde ihn irgendwo an einen See stellen.“

Dass mehr Menschen sich vorstellen können, in Containern zu leben, sagt etwas über einen veränderten Lebensstil aus, glauben Resnik und Groenemeijer. Wohnungen sind nicht mehr nur teure Langzeitinvestitionen oder für die Ewigkeit gebaut. Sie werden zu mitnehmbaren Konsumgütern. Wie Laptops oder Autos. Bei einem Anschaffungspreis von rund 30.000 Euro für einen Wohncontainer kostet er nicht mehr als ein Mittelklassewagen. „Zeichen unserer Zeit“ nennt Volker Albus, Architekt und Professor für Produktdesign an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, das Interesse am Containerleben. Wer sich gern an verschiedene Orte verpflanzt, die eigenen Wände ohne Vorstadtsiedlungscharme und hohe Kreditschulden schätzt, für den sei der Container genau das Richtige.

„Der Wohncontainer hat Zukunft“, prophezeit Volker Albus. Auf Baustellen gibt es sie längst, ebenso auf Bohrinseln. Zahlreiche Projekte entstehen momentan weltweit auf dem Reißbrett. In Amerika, mit seiner Liebe zum „mobile home“ und Fertighaus, könnte er endlich die von stärkeren Winden und Wassern leicht zerlegbaren Spanplattenhäuser ersetzen. Scheichs aus den Vereinigten Arabischen Emiraten haben bei Resnik angefragt wegen Unterkünften für Gastarbeiter in Dubai. Und im Grunde sind Container auch ideal für den Einsatz in Katastrophengebieten. Die Uno hat bislang jedoch abgewunken. „Zu teuer war die Antwort“, sagt Resnik. Dabei sind Container langlebiger, robuster und schützender in Extremsituationen als Zelte, außerdem sind sie überall schnell verfügbar.

Resink selbst kann sich mittlerweile gut vorstellen, ebenfalls in einem Container zu leben. „Ich muss nur noch meine Frau überzeugen.“ Das könnte einfacher sein demnächst, denn seine Firma bastelt bereits an Luxusvarianten, die aus zwei bis drei Containern bestehen werden: Sie sollen „Professor“ und „Direktor“ heißen.