Krise fällt heute aus

Kritik der Kritik (6): Seitdem Musik ständig und überall herunterladbar geworden ist, schwimmt auch die zuständige Kritik öfter im „Ocean Of Sound“ – und taucht manchmal unter. Heute gilt es, die Fähigkeit zu Durchlässigkeit und Distinktion zu wahren

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es denn damit in der Kultur?Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Konsumindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

VON TOBIAS RAPP

Für die einen mag es das Paradies sein, für die anderen ist es wenn nicht die Hölle, dann doch ein Problem. Man stelle sich das Jahr 2015 vor, schreiben die amerikanischen Autoren David Kusek und Gerd Leonhard in ihrem Buch „The Future Of Music“ vom vergangenen Jahr – Musiksoftware-Entwickler der eine, Musikindustrie-Berater der andere. Man steht morgens zu einer Melodie auf, die einen mit einem positiven Schubs aus dem Bett befördert. Man geht unter die Dusche, wo ein spezielles Softwareprogramm einen mit der Live-Version eines Songs überrascht, den man am Abend zuvor im Netz entdeckt hat. Während man sich abtrocknet, gibt man einem Programm namens „Taste-Mate“ zu verstehen, ob das Stück einem gefallen hat. Auf dem Weg zur Arbeit fragt ein anderes Programm namens „Personal Media Minder“, ob man ein Album fertig hören möchte, das man am Vortag nicht beenden konnte, oder ob der „Taste-Mate“ etwas anderes heraussuchen soll – in monatelanger Betreuungsarbeit hat dieses Programm nämlich äußerst feine und genaue Parameter entwickelt. Es weiß, was man will und kann es sofort liefern. Am Abend, wieder zu Hause nach einem Tag, an dem „Taste-Mate“ für jede Stimmung die richtige Musik eingespielt hat, setzt man sich an seinen Schreibtisch, um die Rechnungen zu bezahlen. Und neben dem Geld für die Zeitung und die Strom- und Wasserrechnungen überweist man einen kleinen Betrag für sein Musikabonnement.

„Musik wie Wasser“ nennen Kusek und Leonhard dieses Konzept. Für sie ist es der einzige Weg, der die Musikindustrie aus dem Digitalisierungsdilemma führen kann: Ja, sie soll ruhig weiter Tonträger verkaufen, so wie es auch Mineralwasserflaschen gibt. Aber ansonsten heißt es: fließen lassen und dafür eine Grundgebühr kassieren. Wobei spezielle Dienstleistungen extra kosten könnten, wie etwa der „Taste-Mate“ (interessanterweise gehört Universal Music, die größte der drei Majorplattenfirmen, dem französischen Wasserkonzern Vivendi, aber das nur nebenbei). Warum dies für den Großteil der Menschheit ein paradiesischer Zustand sein dürfte, braucht man wohl niemanden erklären. Warum dies für den Musikkritiker jedoch das eine oder andere Problem bedeutet, dafür muss man ein wenig ausholen.

Fangen wir einmal mit Kuseks und Leonhards Szenario an. „Manifesto For The Digital Music Revolution“ haben sie es untertitelt, und so sehr es sich mit seinem Science-Fiction-Thrill auch an den normalen Leser wendet, soll es vor allem eines sein: eine an die Verantwortlichen in den Plattenfirmen gerichtete Wegbeschreibung heraus aus der endlosen und unaufhaltsamen Misere ihres Industriezweigs. Doch zieht man das ganze SF-Brimborium und die damit einhergehenden Vorschläge für der Digitalisierung angemessene Wertschöpfungsmöglichkeiten einmal ab, ist „Musik wie Wasser“ vor allem eines: Zustandsbeschreibung.

Denn die große Euphorie, die sich vor einigen Jahren noch entfachen ließ, wenn von Musiktauschbören die Rede war, mag vorbei sein. Doch die Börsen sind immer noch da, und die Archive, auf die sie Zugriff erlauben, sind größer denn je. Trotz des Illegalitätsdrucks und trotz aller Angstkampagnen. Jeder, der einen Computer mit schnellem Netzzugang hat, kann sich dort fast jedes Musikstück herunterladen – ohne dafür zu bezahlen. In Windeseile. Das gesamte Geschäftsmodell der Tonträgerindustrie beruht im Grunde nur noch auf Spendenbasis. Das hat viele Konsequenzen. Eine davon: Der Kritiker kommt mitunter ins Schwimmen.

Die Leserin und der Leser mögen diese nasse Metapher verzeihen (und sie seien gleich vorgewarnt, es kommen noch ein paar davon), aber jeder Musikkritiker, der nicht regelmaßig mit dem Gefühl ganz existenzieller Überforderung konfrontiert wird, taugt entweder nichts oder er lügt. Die Digitalisierung hat die schiere Masse von Musik, auf die man zugreifen kann, in so unerreichbare Höhen geschraubt, dass man sich oft in dem endlosen Interessantizismus eines Und… und… und… und verliert: Das gibt es, und das gibt es, und das auch noch.

Zugegeben: Es gibt Schlimmeres. Doch auch wenn die Musikindustrie mittlerweile bei der Vorstellung der Platten der ganz großen Stars aus der Robbie-Williams/Madonna/U2-Liga zu ganz ähnlichen Mitteln greift wie die Filmindustrie bei ihren Blockbuster-Previews – Kontrollen wie am Flughafen, dringende Bitten, bestimmte Papiere zu unterzeichnen, in denen man versichert, sich erst nach der Veröffentlichung zu äußern, im Falle von Robbie Williams’ letzter Tour sollten die Fotografen sogar die Wiederverwertungsrechte an ihren Konzertfotos abtreten –: es hat auch etwas Lächerliches. Hier wird versucht, Produkten eine Wichtigkeit zu verleihen, die sie schlicht nicht mehr haben; und wenige Stunden nach der Veröffentlichung ist die Platte sowieso in den Tauschbörsen. Die Plattenfirmen haben das Rennen längst verloren. Die Versuche, ihren Produkten über künstliche Verknappung etwas Reiz zu verleihen, stehen meist in deutlichem Kontrast zu der Langeweile, die sich bei solchen „exklusiven Prelistening-Sessions“ unweigerlich ausbreitet.

Goldene Zeiten für die Musikkritik also? Es kommt wohl darauf an, mit wem aus dem eingangs gezeichneten Bild man sich als Kritiker identifiziert: dem Hörer, der zu mehr Musik Zugang hat als je zuvor, oder mit dem Softwareprogramm, das das zukünftige Publikum mit Musiktipps versorgen könnte. Im ersten Fall dürfte man mit dem digitalen Zeitalter keine Probleme bekommen. Im zweiten Fall sehr wohl – was nicht nur mit der narzistischen Kränkung zu tun haben dürfte, als Geschmacks-Kumpel, der man als Kritiker ja auch sein möchte, unter Umständen demnächst von einem Computeralgorhythmus ersetzt zu werden. Es gilt einen Autoritätsverlust festzustellen, wenn es um die Kritik von Musik geht.

Was sich am deutlichsten im Internet selbst abbildet, wo sich rund um Tauschbörsen ein äußerst lebendiger Musikschreiberei-Wildwuchs in Blogs und auf Message-Boards gebildet hat, in dem sich all jene diskursive Willkürherrschaft, Anmaßung und Scharlatanerie findet, die interessanten Musikjournalismus ausmacht. Der Begriff der „Relevanz“, die alte Lieblingskategorie der Musikkritik, kommt hier so gut wie gar nicht mehr vor. „Wichtige“ Platten gibt es hier nur selten. Denn Relevanz hing mit einem System zusammen, das um die Charts kreiste – in diesem System markierte sie einen Ort. Sei es als Erfolg, als Misserfolg oder nur als Bezug auf Erfolg oder Misserfolg.

Wo es aber den Mainstream nur noch in Rudimenten gibt, wo die Charts sich nur noch in der Mehrzahl als Abbild des Geschehens in einer Szene denken lassen, ist es schwieriger geworden, jene Art von Geschichten zu erzählen, die diese Art von allgemeiner Gültigkeit entfalten können: die „Thema“ sind, wie man unter Journalisten dann sagt, „für die Seite 1 taugen“, die „den Leser“ interessieren. Man ist vor allem Hörer, mit mehr Zeit als viele andere, aber das war es dann auch schon.

Wie geht man mit einer solchen Situation um? Was tun mit all der Freiheit? Oft nutzt man sie nicht. Oft lässt man sich in alte Automatismen fallen, schaltet auf den popkulturellen Autopiloten und lässt Pop eine Jungsgruppe mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug sein. Am besten aus England oder den USA. Was vollkommen in Ordnung ist, diese Gruppen gibt es – auch wenn die Erzählung von Zusammenrottung und Rebellion, die dieser Musik eingeschrieben ist, vor allem einer großen Vergangenheit geschuldet ist und nur einer kleiner Gegenwart (und ihr gegenwärtiger Erfolg vor allem damit zu tun haben dürfte, dass man mit diesen Bands Konzertsäle füllen kann, der letzten Möglichkeit, mit Musik tatsächlich Geld zu verdienen).

Es gibt aber einiges mehr. Das endlose, Ich-zentrierte Ellbogendrama des Hiphop, das versucht, der Einsicht künstlerischen Raum zu verleihen, das den dynamischen Verhältnissen des modernen Kapitalismus nur durch Einfordern von Sichtbarkeit begegnet werden kann. Heavy Metal mit seiner Idee, in der drastischen Gewaltdarstellung das Individuum mit den Folgen der uneingelösten sozialen Forderungen der Moderne zu konfrontieren. House und Techno und die rauschhafte Erfahrung von körperlich erfahrbarer Tanzflächendemokratie. Jazz und die immer wieder aufs Neue beglückende Praxis, bestimmte Erfahrungsmomente entfremdeten Lebens in gemeinsamer Improvisation aufzuheben. Gothic und das dort verankerte Bedürfnis nach mythologischer Tiefenbohrung, um vielleicht irgendwo auf zeitlose Wahrheit zu stoßen.

Zumal die allgemeine Herunterladbarkeit von Musik, die Veränderung der Hörgewohnheiten, die mit dem großen stilistischen Durcheinander auf Festplatten einhergeht, längst auch auf die Musikproduktion selbst durchschlägt. Nicht nur die Grenzen zwischen verschiedenen musikalischen Stilen sind durchlässig geworden, auch der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist längst verwischt. Dem muss man sich stellen. Das mag heißen, dass man mit den Beinen strampelt, dass man um Hilfe ruft oder dass es einem gelingt, auf den Wellen surfen und elegant über die Schaumkronen des „Ocean Of Sound“ zu reiten. Am Ende kommt es darauf an, so wenig Wasser wie möglich zu schlucken.