jazzkolumne
: Produkt der amerikanischen Fabrik

Zum Jahrestag von 9/11 zeigt sich, wie wenig politische Kraft derzeit von schwarzen Jazzmusikern in den USA ausgeht

Fünf Jahre nach dem 11. September scheint jede Illusion zerstört. In der aktuellen Ausgabe der amerikanischen Fachzeitschrift Jazz Times werden Jazzmusiker befragt, wie sie den Tag erlebt haben, ob sie „out of town“ oder am Ort des Geschehens waren, und wie das jeweils Gefühlte ihr aktuelles Schaffen beeinflusst hat. Der Saxofonist Sonny Rollins berichtet, dass er zum Zeitpunkt der Anschläge in seinem Apartment unweit vom World Trade Center war und viele Stunden auf die Evakuierung warten musste. Diese Unmittelbarkeit der Erfahrung, jenes Mittendrin-gewesen-Sein eines Überlebenden, habe er ganz besonders bei einem Konzert gespürt, das er wenige Tage nach 9/11 in Boston gab.

Die CD „Without A Song (The 9/11 Concert)“ (Milestone) ist mittlerweile mit allen wichtigen Auszeichnungen bedacht worden, Down Beat kürte Rollins dafür gerade zum Jazzkünstler des Jahres. Die Betroffenheit der Leute sei jedoch schnell wieder dem „shitty state of humanity“ gewichen, sagt Rollins, die 9/11-Lektion hätten so gesehen keine Nachhaltigkeit gehabt.

Der Pianist Matthew Shipp, der ebenfalls an jenem Tag „in town“ war, sagt, dass seine Musik für ihn eine Art Versuch sei, sich vor dem Wahnsinn Bin Ladens und Bushs zu schützen. Der Hurrikan „Katrina“ jedoch, der vor einem Jahr die tiefer gelegenen Ortsteile von New Orleans zerstörte, habe ihn noch mehr betroffen gemacht, berichtet Shipp, und das trotz der Tatsache, dass er in New York lebt: Weil jeder im Fernsehen live beobachten konnte, wie wenig unterprivilegierte Schwarze in der amerikanischen Gesellschaft zählen. Auch wenn viele afroamerikanische Jazzmusiker ihre Musik historisch in einer Tradition von Widerstand und Protest verstehen, so kann man angesichts einer zunehmenden Schwäche der afroamerikanischen Position in den letzten Jahren nicht gerade von einer widerstandsorientierten Künstlerbewegung sprechen. Im Gegenteil, spärlich kommen die Statements und vorsichtig. Eine beklagenswerte Zunahme des Rassismus wird eher mit hilflosen Gesten registriert, und wer als ambitionierter Künstler noch jung ist und radikal genug, hält sich mit Tagesjobs über Wasser und nimmt besser schon mal Kontakt zu kreativen Netzwerken in Paris, Köln oder Berlin auf.

Zu den Ausnahmen mag die aktuelle CD der afroamerikanischen Pianistin Geri Allen, „timeles portraits and dreams“ (Telarc), zählen, auch wenn hier vor allem die historische Dimension der schwarzen Kultur im Zentrum steht. Ob nun in ihrer Neuinterpretation der Martin-Luther-King-Rede „I Have a Dream“ oder der afroamerikanischen Nationalhymne „Lift Every Voice and Sing“, beide mit dem herausragenden Tenor George Shirley und dem Atlanta Jazz Chorus, oder in ihrer eigenen Komposition „For the Healing of Nations“, die am 11. September Premiere hat – Allen bezeichnet ihr Werk ausdrücklich als „freedom music“, die den Triumph über das Ende der Tragödie, die ihre Vorfahren erlebten, künstlerisch zum Ausdruck bringen soll.

Doch diese Siegesgewissheit hat leider auch etwas Abgenutztes, sie klingt bestenfalls kraftvoll, noch, aber nicht kämpferisch. Dass sich nun ein Festival in Paris dem schwarzen Widerstandspotenzial widmet, passt da durchaus ins Bild: unter dem Titel „Black rebels“ treten bei Jazz à la Villette (www.jazzalavillette.com) zwischen 30. August und 10. September die großen afroamerikanischen Repräsentanten auf. Neben einem Konzert mit ihrem Quartett wird die Sängerin Abbey Lincoln unter dem Titel „Voix d’opposition“ auch in einer Rede-Session zu Wort kommen; sie berichtet, dass nachdem sie Anfang der 60er-Jahre wegen ihres politischen Engagements und ihrer Platte „Straight ahead“ als „professionelle Negerin“ bezeichnet worden war, ihr kein amerikanischer Plattenvertrag mehr gelang. Der französische Produzent Jean-Phillipe Allard nahm später nicht nur sie unter Vertrag, sondern auch den weißen amerikanischen Bassisten Charlie Haden, der mit seinem Liberation Music Orchestra zu aktivem Widerstand aufrief – beim „Black rebels“-Festival wird auch er als Redner zu „Libération: musique militante“ und mit seinem Orchester dabei sein.

Ob nun Ornette Coleman, Archie Shepp oder Steve Coleman, das World Saxophone Quartet oder die Mingus Dynasty – bei diesem Festival-Aufgebot geht es um die Konstanten. Da darf dann auch der größte Jazzpoet nicht fehlen – Amiri Baraka wird mit einer Avant-Band um dem New Yorker Bassisten William Parker „The Inside Songs of Curtis Mayfield“ interpretieren. Im Begleitprogramm gibt es Filme, DJ-Acts und eine Theaterinszenierung zu John Coltranes „A Love Supreme“.

Doch so viel Stimmigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier um handfeste Konstruktionen geht. Vor der Annahme, dass die schwarze Kultur quasi im Stück zu haben ist, warnt Steve Coleman jedenfalls scharf – das Problem sei ja eben, dass es die schwarze Kultur in Amerika, von der hier gern geredet wird, so gar nicht gibt. Sie habe so viele verschiedene Ausprägungen, dass es einen gemeinsamen Nenner kaum gibt, schließlich gebe es seit der Sklaverei auch immer Schwarze, die lieber weiß gewesen wären. Ebenso klar sei jedoch auch, dass Rassismus „ein Produkt der amerikanischen Fabrik“ ist – als Schwarzer, der in Amerika lebt, sei man täglich mit diesem Phänomen konfrontiert. Und das höre leider nicht auf, nur weil die Zeitungen nichts mehr darüber schreiben. CHRISTIAN BROECKING