„Autos sind Massenvernichtungswaffen“

Verkehrsexperten errechnen, dass in allen Staaten bislang eine Milliarde Menschen bei Autounfällen verletzt wurden. Laut ihrer Prognose wird sich die weltweite Opferzahl in 25 Jahren verdoppeln. Ausweg: Tempolimits und Fahrverbot in Städten

VON NICK REIMER

Der Londoner Crystal Palace wurde erbaut, um Weltgeschichte zu schreiben. Das gelang ihm auch am 17. August 1896 – allerdings auf unerwartete Weise: Vor dem Ausstellungspalast gab es das erste Opfer des motorisierten Personenkraftverkehrs. Bridget Driscoll überquerte die Straße, als von rechts ein Auto kam. Vielleicht verschätzte sich die 44-Jährige, vielleicht quengelte Tochter May an der Hand. Das Auto der Anglo-French Motor Car Company jedenfalls war schneller, als sie dachte – und erfasste sie. Driscoll fiel zu Boden. Sie erlitt so schwere Kopfverletzungen, dass sie wenige Minuten später starb. Arthur James Edsall hatte den Wagen gelenkt – zu einer Demonstrationsfahrt, die die Vorzüge des Automobils zeigen sollte.

Die junge Alice Standing saß auf dem Beifahrersitz, um der Werbetour eine weibliche Note zu geben. Später wird die weibliche Note behaupten, Edsall habe den Motor modifiziert, um schneller fahren zu können. Und Augenzeugen beschrieben Edsalls Tempo als „rücksichtsloses, fast wie ein Feuerwehrwagen“. Edsalls Geschwindigkeit betrug 6,4 Kilometer pro Stunde, so ermittelte die Untersuchungskommission. Ein Unfall, ein tragischer. Der vorsitzende Richter erklärte schließlich: „So etwas darf nicht wieder passieren!“

Doch gab es seitdem schon 40 Millionen Unfälle. Das haben jetzt die Frankfurter Verkehrswissenschaftler Klaus Gietinger und Markus Schmidt herausgefunden. „Wir haben uns von allen relevanten statistischen Institutionen auf der Welt die Daten zuschicken lassen und mit diesen ein mathematisches Modell entwickelt“, erklärt Gietinger der taz. Demnach wurden bislang über eine Milliarde Menschen im Straßenverkehr durch Autos verletzt.

Und das wird sich drastisch verschlimmern. „Die Opferzahlen werden sich in nur 25 Jahren verdoppelt haben“, zitiert Gietinger eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die gibt als Grund das ungeheure Wirtschaftswachstum vor allem in Asien an, was zu einer explosionsartigen Zunahme der Motorisierung führen wird. „Und damit zu einer explosionsartigen Zunahme des Leichenbergs“, so Gietinger. Bereits in 20 Jahren werde der Straßenverkehr Todesursache Numero zwei sein – hinter dem Herzkreislauftod. Dabei haben die Wissenschaftler noch einen Fehler in ihrem Rechensystem entdeckt: „Tote durch verkehrsbedingten Feinstaub, durch Kohlendioxid und den daraus folgenden Klimawandels fehlen in der Statistik“, so Gietinger.

Damit es doch nicht so schlimm wird, fordern die beiden Experten nun die Verkehrswende: „Schärfste Tempolimits, totale Verkehrsberuhigung, keine Vorfahrt mehr für Autos.“ Zudem plädieren sie dafür, Spritsteuern zu erhöhen und die Städte von Autos zu befreien.

Aus Sicht der Frankfurter Forscher sind nur etwa drei Prozent des Kraftfahrzeugverkehrs notwendig. Daraus folge: Eine Verkehrsrevolution, in der das Kfz bekämpft und Fußwege, Radverkehr sowie Busse und Bahn gefördert würden. Markus Schmidt: „Ohne Zweifel ist das Auto eine Massenvernichtungswaffe. Deshalb muss es von der internationalen Staatengemeinschaft wie eine solche geächtet werden.“