„Ich red’ ja nur, ich sag’ ja nichts“

Bob Dylan, 65 Jahre alt, veröffentlicht heute das 31. Album seiner Karriere. Schon vorher war klar, dass „Modern Times“ ein Meisterwerk werden musste. Ist es das?

von MAX DAX

Die Stimme hat Wärme, Ausdruckskraft und Nuancen. Sie entspricht in ihrer natürlichen Autorität der seit einem Jahrzehnt zunehmend perfektionierten Selbstinszenierung des Sängers als chaplinesk schwankendem Southern Gentleman aus einem vergangenen Jahrhundert. Bei seiner Plattenfirma kann man sich nicht erinnern, dass Bob Dylan bei der Aufnahme seiner Gesangsstimme jemals eine solche Sorgfalt an den Tag gelegt hätte wie diesmal, bei „Modern Times“, seinem 31. Studioalbum. Tatsächlich singt Dylan mit einer vibrierenden Zartheit, wie man sie zuletzt bei Frank Sinatra gehört hat. Und bisweilen wechselt das Timbre zu einem resoluten, fordernden Grollen.

Mit ermüdeter Stimme

Dylans Stimme ist in ihrem 65. Jahr gleichwohl eine müde, kaputte, ausgelaugte – und somit nicht jedermanns Sache. Es gibt welche, die die Konzerte des nimmermüden Troubadours vor deren Ende verlassen. Nicht etwa, weil der Sänger sein Publikum, sich oder die Musik verraten hätte, sondern weil lose Wegbegleiter im Angesicht der Gegenwart gelegentlich das Gefühl übermannt, die Songs hätten sich heute in Klang und Auftreten einander angenähert wie stumpfgewaschene Flintsteine in der Brandung. Weißt du noch, wie schön es damals war, als er noch Melodien gesungen hat? Echte, klassische Melodien, wie man sie im Grunde aus allen Schaffensperioden Dylans kennt – von „Desire“ bis hin zu „Oh Mercy!“ – sind auf „Modern Times“ nicht mehr zu finden.

Etwas anderes ist an ihre Stelle getreten. Eine auf Konzerten erprobte, auf Platte tatsächlich nahe gehende Ausdifferenzierung. Die Melodien finden bei Dylan heute im Verborgenen statt, im Atemholen und in der Kadenz seines Gesangs, vor allem aber im Schlagschatten der Genres, die von Dylan und seiner Tourband in den zehn neuen Songs auf „Modern Times“ gestreift werden. In diesem Sinne ist es ein echtes Listening Album geworden, ähnlich vielleicht wie Talk Talks „Laughing Stock“ ein Zuhöralbum gewesen ist, nur subtiler, weil weniger experimentell: Es passiert viel in Betonungen und Momenten instrumentaler Improvisation, in den Freiräumen, die sich ergeben, wenn Genres von Musikern umarmt werden.

Tatsächlich kommt dieses 2006 von den Feuilletons (und den Fans) mit größtem Interesse erwartete Album mit einem ebenso stolzen wie entrückt wirkenden Impetus daher. Der Zustand der Kritik ist der, dass sich all jene, die 1988 noch stachen und hackten, als Dylan nach einem unschönen, siebenjährigen freien Fall die Kurve bekommen hatte (siehe Kasten), heute in Homer’schen Lobgesängen auf den Wortkargen überbieten. Dieses 31. Album musste ein Meisterwerk werden, darin war und ist man sich einig. Hatte Dylan nach Jahrzehnten der Entwindung doch endlich (und von keinem Geringeren als Martin Scorsese) seine ihm seit Ewigkeiten nahe gelegte Rolle als historische Figur angenommen.

Schon das vor fünf Jahren erschienene Vorgängeralbum „Love and Theft“ war ein verliebter Blick zurück, aber das Vorgehen ähnelte damals noch einem Versteckspiel in den bluesigen Seitenarmen des Mississippi. Dylans Genie kam auch damals weniger in originären Phrasen, Melodien oder Songs zum Vorschein, sondern stattdessen im virtuosen Zitieren von Spielarten. Dass Dylan seine redseligen Wortschwälle tatsächlich Junichi Sagas Roman „Confessions of a Yakuza“ entlehnt hatte und mitunter dreist ganze Songs von Billie Holiday, Gene Austin oder Johnnie and Jack als eigene ausgegeben hatte – geschenkt. Der Plattentitel, zu deutsch: „Liebe und Diebstahl“, war diesbezüglich ohnehin ein Wink mit dem Zaunpfahl. Vermutlich hat Bob Dylan auf „Modern Times“ trotzdem etwas weniger gewildert.

Mit pessimistischem Blick

Die Metafrage hinter allem, was uns Bob Dylan heute zu sagen hat, der Subtext von „Modern Times“: Welches Gitarrensolo, welche Melodie, welcher überraschende Akkordwechsel können heute noch so etwas wie eine Signifikanz haben, wo doch alles schon gesagt wurde, wo sich doch, pessimistisch betrachtet, der Individualismus als Trugschluss erwiesen hat? Im amerikanischen Rolling Stone lässt sich Dylan aus über den Niedergang der Kultur: „Die modernen Schallplatten klingen alle scheußlich – wie statische Aufladungen. Man kann nicht mehr tun, als die Errungenschaften der Technik auf allen Ebenen abzulehnen, aber ich kenne niemanden [der diesen Kampf gewonnen und] in den gesamten letzten 20 Jahren auch nur eine gut klingende Schallplatte aufgenommen hätte.“

So verwundert es kaum, dass Dylans neue Songs zu klingen versuchen, als entstammten sie direkt aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das beginnt bei den Songtiteln: „Rollin’ and Tumblin‘“, „Workingman’s Blues #2“ oder „When the Deal Goes Down“ verweisen in ihrer Lautmalerei schwärmerisch und beschwörend auf eine zurückliegende Zeit. Und wie alle Schwärmer gießt Dylan heute endlose Wortkaskaden über seinen Hörern aus: Mit jeder Strophe überbieten sich Songs wie die Ballade „Spirit on the Water“ oder das wie ein Trauermarsch daherkommende „Ain’t Talkin‘“ in ihrem Wortreichtum.

Freilich: Aus den inneren Monologen leuchten immer wieder einzelne Phrasen wie Leuchttürme an einer dunklen Felsenküste heraus: An einer Stelle singt Dylan die schönen Worte „No man, no woman knows / The hour that sorrow will come“, an einer anderen: „I tried to be friendly, I tried to be kind / I’m gonna drive you from your home just like I was driven from mine.“

Die Welt, die Bob Dylan auf „Modern Times“ vor uns ausbreitet, ist dennoch selten eine poetisch verklärte, dafür oft ein endzeitliches Sittengemälde in Dämmerungsgraublau. Der Song „Nettie Moore“ kommt, auch wenn es sich hierbei ausdrücklich um eine Spekulation handelt, einem Selbstporträt Dylans im Jahr 2006 am nächsten. Dylan singt: „All I ever do is struggle and strive / If I don’t do anybody any harm, I might make it back home alive.“ Doch wendet der Sänger den Blick einmal von sich und seinen Lieben ab, rückt Schlechtes in den Fokus: Die Nächstenliebe wird mit den Füßen getreten, Dämme werden brechen, wenn es weiter so schlimm regnet, offenen Auges marschiert die Menschheit in ihr eigenes Verderben – und die guten Frauen wurden vom Erzähler schon vor Jahren verlassen.

Mit wegwerfender Geste

Endlos mäandert Dylan, im Vortrag hypnotisch bis einschläfernd, durch den machtvollen, fast 9-minütigen Songmonolithen „Ain’t Talkin‘“. Im Refrain singt er fast entschuldigend: „Ain’t talkin’, just walkin’ / Heart burnin’, still yearnin‘“. Man fühlt sich an das Sprichwort „Ich red’ ja nur, ich sag’ ja nichts“ erinnert. Hier erscheint Dylan wie ein flüchtiger Geist, der zu Lebzeiten alles gesehen hat und nun, im Mezzanin zwischen Himmel und Hölle sein Unwesen treibend, seine Erkenntnisse gerne zu teilen bereit ist – nur um erschrocken festzustellen, dass ihm die Menschen, beschäftigt mit unablässigen Lobpreisungen, kaum mehr richtig zuhören. Schon auf „Love and Theft“ wandte sich Dylan mit dem Song „Sugarbaby“ an ein Pferd – den wahren Freund des Menschen.

In diesem Sinne ist „Modern Times“ das Resultat eines immensen Akts der Willenskraft, schließlich hatte Dylan es sich ungleich schwerer gemacht als der verstorbene Johnny Cash im Zuge dessen gesamter „American Recordings“-Serie: Dylan vereinnahmt in seinem eigenen Spätwerk nicht die Signatursongs anderer Sänger, sondern steigt dankenswerterweise selbst in den Ring. Das übrigens ist eine gültige Metapher: Bob Dylan boxt wie sein Idol, der verstorbene Miles Davis.

Mit harten Bandagen

Und als Boxer tat er das einzig Richtige, was er tun konnte, er setzte auf Punktsieg und nistete seine neuen Songs in den kohäsiven Systemen bereits millionenfach erprobter Rock-’n’-Roll-, Blues-, Country-Waltz- und Rockabilly- Songstrukturen ein. Seine diszipliniert-virtuos aufspielende Band verpflichtete er folgerichtig, minimalistische Zweiton-Gitarrensoli zu spielen, wo andere monsterbeeindruckende Hooks vom Stapel gelassen hätten. Am besten hört man diese zunächst gehemmt wirkende, im Laufe der Zeit aber eine echte Magie ausstrahlende Zurückhaltung in Songs wie „Thunder on the Mountain“ und vor allem in den repetitiven Gitarrenschichtungen von „Someday Baby“, wo man sechs verschiedene Gitarrensoli zeitgleich zu hören meint.

Denn die Frage muss erlaubt sein: Hätte man Dylan wirklich ein zweites „Knockin’ on Heaven’s Door“ abgekauft? Einen abermaligen „Like a Rolling Stone“? Oder hätte man neuerliche Geniestreiche dieser Art nicht intuitiv als Selbstplagiat verrissen? Eher schon hätte man einen Song vom Kaliber eines „Across the Green Mountain“ erwarten dürfen, den Bob Dylan 2003 für das prätentiöse US-Bürgerkriegsdrama „Gods & Generals“ geschrieben hatte. Ein solcher Song aber fehlt auf „Modern Times“. Er fehlt sogar schmerzlich, wenn man all die Kritiker beim Wort nimmt, die „Modern Times“ noch vor Erscheinen als „Klassiker“ (Uncut) oder „phänomenale Platte“ (FAS) geadelt – und im kollektiven Jubelrausch Trennschärfe und Bewertungsmaßstäbe verloren haben.

Keine Frage, „Modern Times“ ist ein fantastisch dramaturgisiertes Album in den Zeiten beliebiger, zusammenhangloser Einzelsong-Downloads. Aber man erlaube sich einmal, die Westernswing-Nummer „Beyond the Horizon“, den einzigen echten Schwachpunkt des Albums, gegen „Across the Green Mountain“ auszutauschen und genau hinzuhören: Was wäre „Modern Times“ für ein epochales Album geworden?