Vergessener Ort der Qualen

Im ehemaligen Barackenlager Schöneweide eröffnet die Stiftung Topographie des Terrors das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Neben Ausstellungen soll ein europaweit einmaliges Forschungsprojekt über NS-Arbeitslager entstehen

VON NINA APIN

Fünf Frauen und ein Mann betreten die Baracke. Sie singen ein melancholisches russisches Volkslied, das vom Rattern eines Zuges und deutschen Befehlen übertönt wird. Als sie wieder erscheinen, tragen sie Zwangsarbeiter-Kleidung: Kopftuch, Schürzen, grobe Arbeitsjacken. Sie stapeln Kisten, angetrieben von ihrem deutschen Aufpasser: „Schneller, arbeiten sollt ihr!“

Die kurze Darbietung des Berliner Dokumentartheaters flankierte die Schlüsselübergabe für das neue Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, die gestern in Schöneweide stattfand. Im Publikum befanden sich einige Menschen, die sichtlich bewegt und alt genug waren, persönlich von der Geschichte des Ortes betroffen zu sein: Von 1943 bis 1945 stand hier, unter Kiefern und in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Gründerzeit-Wohngebiet, eines von etwa 3.000 Berliner Lagern für Zwangsarbeiter. Rund 2.000 Militärinternierte und Zivilgefangene aus Italien, weibliche KZ-Häftlinge und vermutlich osteuropäische ZwangsarbeiterInnen wurden in den Baracken zusammengepfercht, um in der AEG, dem Reichsbahnausbesserungswerk und weiteren umliegenden Industriebetrieben zu arbeiten.

Noch heute sind 11 der insgesamt 13 Steinbaracken des im Auftrag von Albert Speer errichteten „Doppellagers 75/76“ erhalten – ein europaweit einmalig konserviertes Ensemble. Die Stiftung Topographie des Terrors will dort keine Gedenkstätte, sondern einen „lebendigen Ausstellungs-, Forschungs- und Lernort“ etablieren, wie Topographie-Direktor Andreas Nachama bei der Schlüsselübergabe sagte. Das Zentrum will nicht nur die weitgehend ungeklärte Herkunft der italienischen Lagerinsassen von Schöneweide erforschen, sondern in wechselnden Ausstellungen zeigen, wie andere europäische Länder mit der Erinnerung an Zwangsarbeit umgehen. Der versteckt gelegene Ort in Schöneweide könnte so zu einem europaweit einmaligen Forschungsprojekt über eines der am längsten verdrängten Kapitel der Nazi-Herrschaft werden. Der Senat hat 360.000 Euro im Jahr für das Zentrum bewilligt; 1,4 Millionen Euro für die ersten Umbauten, etwa das Einbauen einer Zentralheizung, kommen zusätzlich von der EU.

Der Architekt Heinrich Rother ließ das Lagergelände von Wildwuchs säubern und Kies aufschütten. Renoviert sind bisher zwei der verfallenen graubraunen Flachgebäude, in denen Dokumentation und Ausstellung untergebracht sind. Die behutsamen architektonischen Eingriffe sollen das NS-Zwangsarbeiterlager und zugleich die „nachkriegszeitlichen Überformungen“ sichtbar machen.

„Überformungen“ und geschichtliches Desinteresse gab es reichlich – dass von der ursprünglichen Lagerarchitektur überhaupt noch etwas übrig ist, grenzt an ein Wunder. Schon während der Nazizeit lebten die Internierten unbeachtet direkt unter den Augen der Bevölkerung. Auch nach dem Krieg ignorierte man die Geschichte des Geländes. Im westlichen Teil des Lagers zog 1946 ein Impfstoffinstitut ein, im Osten an der Köllnischen Straße brachte man Werkstätten, eine Kindertagesstätte, eine Sauna und eine Kegelbahn in den Baracken unter.

Erst 1993 „entdeckte“ eine für die Bezirkssanierung eingesetzte Planergemeinschaft das Zwangsarbeiterlager neu. Ihnen und der Arbeit von Bürgerinitiativen wie der Berliner Geschichtswerkstatt und dem Bund der Antifaschisten Treptow ist es zu verdanken, dass das Gelände 1995 unter Denkmalschutz gestellt wurde und schließlich auch die Politik mit einem Nutzungskonzept am Zustandekommen des Zentrums mitwirkte. Doch vom Bürgerengagement bis zur Projektbeauftragung der Stiftung Topographie des Terrors durch die Kulturverwaltung im April 2005 war es ein langer Weg.

Den dokumentiert die gestern eröffnete Ausstellung „Bausteine. Geschichte und Perspektiven des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit“ in Baracke 3. Neben einem Verkaufsschild des Bundes, der noch 2001 das Gelände veräußern wollte, und anderen Wegmarken werden Arbeitsausweise des „AEG Trio“-Werks und weitere Dokumente aus dem Alltag der ZwangsarbeiterInnen gezeigt. Am erschütterndsten aber sind die Originalzitate, die an die Barackenwände gemalt wurden. „Ob beim Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen, interessiert mich nicht“, sagte Heinrich Himmler 1943. Es hat lange genug gedauert, bis das Schicksal der ZwangsarbeiterInnen hierzulande die Öffentlichkeit interessierte.