Zugelaufene Geschichten

Eine Mischung aus Tatort und Traumschiff: Eva Demskis Roman „Das siamesische Dorf“

Mit Ferienparadiesen ist das so eine Sache. Kaum entdeckt, existieren sie schon nicht mehr. Wenn erst die Reiseführer einen Ort als Geheimtipp anpreisen, ist es um das Paradies meist längst geschehen. Die Journalistin Albertine Aulich, genannt Kecki, Hauptfigur in Eva Demskis neuem Roman, ist so eine professionelle Paradieszerstörerin. Unermüdlich reist sie um die Welt, um in schönster Katalogprosa von unberührten Erdenfleckchen zu schwärmen. Diesmal ist Kecki allerdings etwas spät dran. Das Urlaubsparadies an der Küste Thailands, das sie mit ihrem Kollegen und früheren Geliebten, dem Fotografen Max von Deggendorf, besucht, ist touristisch längst erschlossen.

Die komfortable Ferienanlage unter der Leitung eines Ostwestfalen namens Horst entspricht bereits höchsten westlichen Ansprüchen. Für das spirituelle Wohlergehen sorgen die nahegelegenen buddhistischen Klöster, in denen die zivilisationsgeschädigten Reisenden geistig auftanken können. Doch der schöne Schein trügt. Nur ein paar Kilometer entfernt steht mitten im Dschungel ein zweites, ein „wirkliches“ Dorf. Hier dämmern die Einheimischen vor dem Fernseher auf ihren Pritschen dahin, wenn sie nicht gerade den fremden „rosa Ferkelmenschen“ zu Diensten stehen, ihnen Kleidung oder Liebe verkaufen. Ein düsteres Geheimnis umgibt diesen Ort. Zwei Frauen aus dem Dorf sind spurlos verschwunden. Zudem werden menschliche Körperteile gefunden, hier eine Hand, dort ein Stück tätowierte Haut. Ein Deutscher wird auf einem Ausflug entführt und später misshandelt. Wer steckt hinter all diesen Verbrechen? Und welche Rolle spielen dabei Deutsche, die – als harmlose Touristen getarnt – ihre skrupellosen Pläne für ein gehobenes Altersheim inklusive Sex- und Erweckungsangeboten verfolgen?

Nach und nach entpuppt sich die perfekte Urlaubsidylle als ein weitverzweigtes Netz aus Interessen, in dem sich westliche und östliche Skrupellosigkeit gewinnbringend verbinden. Bewusst setzt Demski auf Gemeinplätze und Stereotype, die sie zugleich ironisch bricht: das alternde Ehepaar auf Erholungssuche, das nur noch durch eingeübte Streit- und Versöhnungsrituale zusammengehalten wird; die todkranke Zehlendorfer Witwe, begleitet von einem Heiratsschwindler; der abgehalfterte Schlagersänger Curd Caramel, der auf kleine Kinder steht; die fetten weißen Investoren; schließlich die Einheimischen mit ihren kokosnusskleinen Hintern und Haaren, schwarz wie Lack, die die Begehrlichkeiten und Sehnsüchte der hässlichen Fremden geschickt auszunutzen wissen.

Und mittendrin in dem Gewimmel die beiden unbestechlichen Reporter samt dem ihnen zugelaufenen Hund Kautschuk, der am Ende sein neues Frauchen vor den bösen Verbrechern rettet. Der Kriminalfall aber ist nur mäßig spannend, und auch die Entlarvung angeblicher Klischees funktioniert nicht so recht. Oder glaubt tatsächlich noch jemand an den Mythos vom guten Wilden und die vollkommene Interessenlosigkeit buddhistischer Mönche? Für jeden Geschmack hat diese Mischung aus „Tatort“ und „Traumschiff“ etwas zu bieten: Mord und Totschlag, Wunderbares und Grausiges, enttäuschte Liebe und unerfüllte Sehnsucht, abgerundet durch wohldosierte Religions- und Kulturkritik.

Dazwischen gibt es immer wieder amüsante Beobachtungen über Paare und ihre eingeübten Rollenspiele, über abgeklärte Fiftysomethings, die ihre Falten und Fettpölsterchen akzeptiert haben und doch beim Anblick schlanker junger Mädchen aus der Fassung geraten, über mittelalte Frauen, die nach allerlei Lebensenttäuschungen ihr spirituelles Heil in der buddhistischen Lehre suchen. Seniorenüberschuss und Kindersex, Touristenesoterik und Wellnessboom – alle Themen aus den Schlagzeilen der Zeitungen werden angeschnitten. Durch diesen Aktualitätsdruck und den spürbaren Zwang zum Bonmot wirkt die kriminalistische Handlung überfrachtet und zudem arg konstruiert. „Geschichten müssen einem zulaufen wie Hunde“, sagt die tierliebe Kecki einmal. Dafür erscheint diese Geschichte dann doch etwas weit hergeholt. MARION LÜHE

Eva Demski: „Das siamesische Dorf“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 382 Seiten, 19,80 €