Der Bomber aus New Prospect

Der Böse als Held: In seinem neuen Roman „Terrorist“ belauscht John Updike einen jungen Mann auf seinem ultimativen Karriereweg zum islamistischen Selbstmordattentäter. Die Bedrohung kommt aus dem Inneren der westlichen Gesellschaft

Gibt es überhaupt einen rechten Weg? Oder ist es bereits ein Fehler, am Leben zu sein? – So lässt Updike einen frustrierten Lehrer fragen

VON JÖRG MAGENAU

Literatur ist ein langsames Medium. Jahre oder Jahrzehnte kann es dauern, bis historische Ereignisse und persönliche Erfahrungen erzählbar werden. Was ist also von einem Roman zu halten, der sich passgenau in die Wochenaktualität der deutschen Kofferhysterie einfügt und den reißerischen Titel „Terrorist“ trägt? John Updike hat ihn zum fünften Jahrestag des 11. September geschrieben, noch bevor sich die ersten Feuilletonklagen erhoben, wo denn der große Terrorismusroman bleibe.

„Terrorist“ belegt, wie schnell Literatur sein kann, wenn sie nicht versucht, der Wirklichkeit hinterherzuhecheln, sondern ihr zuvorkommt, indem sie die Voraussetzungen des aktuellen Geschehens untersucht. Updikes Plot – ein Sprengstoffanschlag auf den Lincoln Tunnel in New York – hat sich schon während des Schreibprozesses bewahrheitet, als drei Männer verhaftet wurden, die ein ähnliches Attentat auf den Holland Tunnel geplant haben sollen. Das beweist aber nur, wie leicht die neuralgischen Punkte des öffentlichen Lebens zu finden sind und wie wenig Fantasie dafür erforderlich ist, sich Katastrophen auszudenken. Das Böse als Fanal: Es ist lächerlich einfach. Aber was ist daran so verlockend?

Die Frage, wie einer zum Terroristen wird, ist für Updike die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Wert des einzelnen Individuums und nach dem Zustand der Gesellschaft. Was kann man wollen in dieser Welt? Was darf man glauben? Über Terrorismus zu sprechen heißt, von Religion zu handeln. Nicht die konkrete Tat steht im Mittelpunkt des Romans – auch wenn er im letzten Drittel echte Thrillerdynamik entwickelt. Updike will herausfinden, was einen jungen Mann antreibt, der bereit ist, sein Leben zu opfern. Er rückt ihm ganz nahe und belauscht ihn, um die Logik seiner Gedankengänge zu begreifen. Er schildert das Geschehen in unmittelbarem Präsens, protokolliert gewissenhaft innere Monologe, hält aber als ungerührter auktorialer Erzähler die Distanz. In den USA ist Updike vorgeworfen worden, seinen Helden zu sympathisch gezeichnet zu haben. Doch wer etwas verstehen will, muss seinen Gegenstand so stark wie möglich machen.

Der 18 Jahre alte Ahmed ist ein scheuer junger Mann, der stets gebügelte weiße Hemden trägt. Er ist fleißig und neugierig, höflich und zuvorkommend, allerdings auch ziemlich verklemmt. Die Mädchen in der Schule mit ihren „funkelnden Nabelpiercings und abenteuerlich tief ansetzenden Tattoos“ lösen in ihm gelinde Panik aus. Ihr schwellendes Bauchfleisch ist bedrohlicher als die Gangs der Schwarzen und der Latinos, zwischen denen er sich als Einzelgänger durchzulavieren versucht. „Frauen sind Tiere, die sich leicht führen lassen“, hat er bei seinem Imam, Scheich Raschid, gelernt, einem zweiflerischen, aber deshalb nicht weniger fanatischen Mann. Haben werdende Terroristen vielleicht bloß zu viel Angst vor Frauen? Das ist die bedenkenswerte erste These des Romans.

Ahmeds Mutter, gebürtige Irin, ist eine lebenslustige Frau mit vielen Männerfreundschaften. Der Vater, ein Ägypter, hat die Familie früh verlassen. Dessen Abwesenheit besetzt nun der Imam, dessen Faszinationskraft auch dadurch nicht geschmälert wird, dass die Moschee eine Bruchbude ist und Ahmed der einzige Schüler bleibt. Scheich Raschid rät ihm auch dazu, nach der Schule Lkw-Fahrer zu werden, und vermittelt ihn in das dubiose Möbelhaus einer libanesischen Familie – einer Schaltstelle des geplanten Attentats. Ahmed ist ein Vatersucher. Das ist die nahe liegende zweite These.

Updikes Modellterrorist ist ein exemplarischer, aber vermutlich kein „typischer“ Vertreter seiner Art. Er entspricht eher der britischen Variante der Bedrohung aus dem Inneren der Gesellschaft, die Updike aber in die Suburbs von New Jersey verlegt. In der Stadt, die er New Prospect nennt, fanden Einwanderer früher einmal Arbeit und Auskommen. Jetzt gibt es nicht mehr viel zu tun. Die Industrie ist weitergezogen an Orte, wo Arbeitskräfte billiger sind. Viele Schwarze leben hier, wenige übrig gebliebene Weiße und ein paar Araber. Auch Ahmed hält sich für einen Araber, dabei könnte er sich mit seiner rothaarigen Mutter genauso gut als Ire definieren. In einer Migrationsgesellschaft, in der die Unterschiede verwischen, sucht er nach Eindeutigkeit. Das ist die dritte These.

Bürgerliche Karrieren sind selten in dieser sterbenden Vorstadtwelt. Kein Tellerwäscher wird mehr zum Millionär. Die kleinbürgerlichen Aufstiegsträume, wie Updike sie seit seinen „Rabbit“-Romanen mit dem Helden Harry Angstrom immer wieder entwarf, funktionieren nicht mehr. Ahmed ist ein später Nachkomme von Harry Angstrom – mit umgekehrten Vorzeichen. Angstroms sexuelle Obsession hat sich bei ihm in religiös grundierte Enthaltsamkeit verwandelt. Aus dessen Aufstiegswillen wurde eine bedingungslose Ausstiegsbereitschaft. Und die hasenhafte Angst des Dauerflüchters hat sich in die seltsame Entschlossenheit eines Verunsicherten verwandelt, der doch nur den Plänen folgt, die andere ihm vorgeben. Die Perspektivlosigkeit der postindustriellen Gesellschaft als Ursache der Attraktivität, die das ultimative Karrieremodell „Selbstmordattentäter“ bietet – das ist die vierte, nicht sehr überraschende These.

Geblieben ist jedoch über die Jahrzehnte hinweg, von „Rabbit“ bis zu Ahmed, die metaphysische Sehnsucht nach Glaubenssicherheit. Dieses Thema hat Updike in all seinen Romanen kontinuierlich beschäftigt. Der American Way of Life mit seinem Konsumgeklingel hat der transzendentalen Bedürftigkeit des Menschen nicht viel zu bieten. Das erlaubt den Religionen, radikal zu werden. In „Gott und die Wilmots“ spielte Updike die Variante des christlich-sektiererischen Fundamentalismus durch. Jetzt ist es der Islam, der Ahmed in einer von „schlaffen Christen“ und „nichtpraktizierenden Juden“ dominierten Gesellschaft eine Identität bietet. Updike musste keine neuen Horizonte erfinden, um das Phänomen der Terrorismusbereitschaft zu erklären. Es ist in dieser Gesellschaft angelegt. Das ist die beängstigende fünfte These. (Ungelöst bleibt dabei der Widerspruch, der den islamischen Fundamentalismus kennzeichnet: Die gehasste westliche Zivilisation wird als schwach betrachtet und doch zugleich als globale Bedrohung erlebt.)

Das Selbstmordattentat ließe sich paradox als die radikalste Auslegung des westlichen Ideals der Selbstbestimmung interpretieren. Für Ahmed ist es aber auch die Konsequenz aus einer religiösen Sackgasse des Islams. Sein Gott ist „kein Gott des Unternehmergeistes, sondern ein Gott der Unterwerfung“, stellt er fest. Er bietet ihm keinen sichtbaren Weg in die Zukunft, keine „Berufung“. Ahmed kommt es so vor, „als wäre ihm, im köstlichen Schlummer seiner Hingabe an Allah, seine Zukunft amputiert worden“. Diesen Mangel kann nur die Entschlossenheit zu einer großen Tat kompensieren. Der Einzige, der das drohende Verhängnis aufhalten kann, ist der Beratungslehrer der Schule, Mr. Levy, ein frustrierter älterer Jude, dessen Blick auf die Gesellschaft sich gar nicht so sehr von dem Ahmeds unterscheidet. Gibt es überhaupt einen rechten Weg oder ist es bereits ein Fehler, am Leben zu sein?, fragt er sich. Der Kapitalismus ist für ihn eine diktatorische Kultur, die den Eltern gebietet, die Kinder mit all dem Ramsch auszustatten, den sie brauchen, um nicht hinter ihre Altersgenossen zurückzufallen. Er leidet unter der Herrschaft von Hedonismus und Nihilismus und fühlt sich als „Erfüllungsgehilfe eines Systems, an das er selbst nicht glaubt“.

Mr. Levy unterhält vorübergehend ein Liebesverhältnis mit Ahmeds Mutter. Das wirkt etwas überkonstruiert, gibt Updike aber die Gelegenheit, die Sexszene unterzubringen, ohne die ein Updike-Roman schlechterdings nicht vorstellbar wäre. Allerdings sind diese Bettbegegnungen eher schweißtreibende und wenig beglückende Angelegenheiten. Vor dem großen Finale erlebt auch Ahmed noch eine Art sexueller Erweckung, die sein Chef ihm organisiert. Selbst wenn im Paradies 19 Jungfrauen auf ihn warten, wäre es doch schade, auf Erden „nichts vors Rohr bekommen“ zu haben – wie der sich recht unfromm auszudrücken pflegt. Ahmeds Moralvorstellungen erlauben ihm zwar nicht, das Angebot rückhaltlos anzunehmen (er behält Hose und gebügeltes Hemd an), doch das Mädchen, das ihm als Prostituierte im Bettenlager des Möbelhauses zugeführt wird, ist eine ehemalige schwarze Mitschülerin, die ihm gefällt.

Einmal begleitete er sie in ihre Kirche, wo sie im Gospel-Chor sang. Die breite Schilderung dieses christlichen Gottesdienstes ist ein erzählerischer Höhepunkte des Romans, der nicht zuletzt durch solche Szenen zu einem brillanten Gegenwartspanorama wird. Die ärmliche Welt in New Prospect mit ihren TV-Soaps und cholesterinfreiem Fastfood bietet nicht viel, was den Aufwand der Verteidigung lohnen würde. Updike, der amerikanische Patriot aus Pennsylvania, ist zu einem Skeptiker der Suburbs geworden. Selbst der Sex ist nicht mehr das, was er einmal war. Und das will bei ihm wirklich etwas heißen.

John Updike: „Terrorist“. Roman. Deutsch von Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006, 398 Seiten, 19,90 Euro