Der wahre Preis der Zuzahlungen

Die Eigenbeteiligungen in der gesetzlichen Krankenversicherung sind wirtschaftlich fragwürdig, gesundheitsgefährdend und diskriminieren die Armen, Kranken und Alten

Für die These von der „Übernutzung“ des Gesundheitswesens fehlen die empirischen BelegeDie Abschreckung wirkt vor allem bei Erstkontakten und einfacheren Behandlungen

Gesundheit wird in Deutschland immer mehr zu einem Privatvergnügen. Laut dem Statistischen Bundesamt ist der Anteil der Privatausgaben an den gesamten Gesundheitskosten in den letzten zehn Jahren von 42 auf 47 Prozent gestiegen. Staat und Krankenkassen gaben entsprechend weniger aus. Wesentlichen Anteil an der Verlagerung der Kosten von den Sozialsystemen auf Privathaushalte haben die steigenden Eigenbeteiligungen der PatientInnen.

Die Aushöhlung der sozialen Absicherung gegen Krankheitsfolgen schreitet munter voran. Doch die vermeintlich große Reform unter dem Sammelbegriff „Gesundheitsfonds“ wird die finanziellen Engpässe nicht beseitigen. Und so erschallt erneut die Forderung nach höheren Selbstbeteiligungen. Kaum ein Mythos hält sich so hartnäckig wie der, Patientenzuzahlungen könnten knappe Kassen sanieren.

Patientenbeauftragte Helga Kühn-Mengel hatte wohl recht, als sie feststellte, seit Einführung der Praxisgebühr Anfang 2004 sei „sicherlich der ein oder andere überflüssige Arztbesuch weggefallen“. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist aber, dass auch der ein oder andere dringend erforderliche Arztbesuch ausfallen musste. Und dass verspätete Arztkontakte in dem ein oder anderen Fall spürbar erhöhte Behandlungskosten verursacht haben.

Vor allem Wirtschaftskreise und Liberale propagieren Eigenbeteiligungen nicht nur als zusätzliche Einnahmequelle, sondern vor allem zur Steuerung im Gesundheitswesen. Zuzahlungen sollen die vermeintlich überzogene Inanspruchnahme kostenfreier Leistungen eindämmen. Eine „rationalere“ Nutzung des Gesundheitssystems würde die Kosten senken und die „Effizienz“ steigern.

Doch das auch in der Sozialpolitik propagierte Menschenbild der marktwirtschaftlichen Theorie kann allenfalls einen kleinen Teil des Verhaltens der „VerbraucherInnen am Gesundheitsmarkt“ erklären. Der individuelle Nutzenzuwachs durch Arztbesuche und Pillen hält sich für Versicherte trotz prinzipieller Kostenfreiheit sehr in Grenzen. Die These von der „Übernutzung“ des Gesundheitswesens beruht auf gefühlter Wahrnehmung, empirische Belege fehlen. Schließlich müsste man lange Warteschlangen vor Herzzentren oder Apotheken erwarten, nur weil Bypassoperationen oder teure Chemotherapeutika für die Versicherten nahezu umsonst und daher mit großem Nutzengewinn verbunden sind.

Auch die von Theoretikern und Interessengruppen unterstellte Abgrenzung zwischen „sinnvollen“ und „überflüssigen“ Behandlungen gehört nicht in eine seriöse gesellschaftspolitische Debatte. Die Verringerung der Inanspruchnahme aufgrund von Zuzahlungen betrifft immer und überall auch „berechtigte“ Arztbesuche. Die Idee von der „vernünftigen“ Nutzung des Gesundheitswesens setzt nämlich ein Volk von medizinischen Profis voraus, die zuverlässig ihren Gesundheitszustand einschätzen können. Selbst Fachleute wissen aber oft erst nach mehreren Untersuchungen, wie schwerwiegend eine Erkrankung ist, also wie „sinnvoll“ der Arztbesuch wirklich war. Schließlich kann ein Symptom wie Kopfschmerzen Ausdruck so unterschiedlicher Krankheitsbilder wie Migräne, Hirnblutung oder Grippe sein.

In etlichen Ländern hat sich gezeigt, dass Selbstbeteiligungen mittel- und langfristig hohe Folgekosten verursachen können. Neben unterlassenen Arztbesuchen Kranker birgt vor allem die ausbleibende oder unzureichende Medikamenteneinnahme ein großes finanzielles Risiko. Denn ein Teil der PatientInnen reagiert auf Arzneimittelzuzahlungen mit Absetzen oder Strecken der Packungen über einen längeren Zeitraum. Vor allem bei Hochdruck- und Blutfettmitteln beeinträchtigt Unterdosierung die Wirksamkeit der Therapie. Die Folgen sind vermeidbare Behandlungskosten ebenso wie persönliches Leid der Betroffenen.

Es liegt auf der Hand, dass Zuzahlungen vornehmlich auf Erstkontakte mit dem Gesundheitswesen und auf einfachere, kostengünstige Behandlungen wirken, denn nur dort entscheidet der Versicherte selbstständig. Kaum ein Patient kommt mit der gezielten Bitte um eine Dünnschichttomografie der linken Niere, eine 5-FU-Chemotherapie oder die Aufdehnung der rechten Herzkranzarterie in die Praxis. Die Entscheidung über weitergehende und vor allem teure Diagnostik und Therapie liegt in aller Regel bei medizinischen ExpertInnen. Gerade die kostenrelevanten Gesundheitsleistungen erfolgen anbietervermittelt und damit unabhängig von eventuellen Eigenbeteiligungen, über die die ÄrztInnen kaum Bescheid wissen – oder zu denen sie von sich aus keine Verbindung herstellen wollen, wenn sie Abschreckungscharakter haben könnten.

Grundsätzlich benachteiligen Zuzahlungen kranke, vor allem chronisch kranke gegenüber gesunden Menschen. Nur wer das Gesundheitswesen in Anspruch nimmt, muss zahlen. Gesunde hingegen bleiben verschont und sparen durch ihren niedrigeren Beitragssätze sogar. Die höchsten Einsparmöglichkeiten gäbe es übrigens dort, wo Zuzahlungen über Leben und Tod entscheiden können. Die höchsten Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen fallen nämlich für die kleine Minderheit Schwerstkranker an, während das Gros der Versicherten nur einen winzigen Teil verbraucht. Eine spürbare Beteiligung an den hohen Behandlungskosten ist bei Todkranken aber weder einzufordern noch ethisch vertretbar.

Zuzahlungen im Krankheitsfall unterlaufen Grundprinzipien der sozialen Krankenversicherung und benachteiligen die unteren sozialen Schichten gegenüber Bessergestellten. Außerdem unterlaufen sie die Herausforderungen sozialer Sicherung. Zwar sind die Befunde zu sozialen Auswirkungen der vor eineinhalb Jahren eingeführten Praxisgebühr bisher widersprüchlich, doch wäre es sehr unwahrscheinlich, dass Deutschland das einzige Land Welt ist, wo Eigenbeteiligungen keine soziale Diskriminierung verursachten.

Außerdem wäre es auch nicht beruhigend, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen von den Zuzahlungserhöhungen betroffen sind. Schließlich ist die gesunde Lebenserwartung des ärmsten Fünftels der Bevölkerung mehrere Jahre kürzer als die der Oberschicht. Zur Überwindung dieser sozialen Ungleichheiten tragen Zuzahlungen sicherlich nicht bei.

Die Gesamtentwicklung zeigt, dass die finanzielle Belastung der Versicherten eher zur Kostensteigerung als zur Dämpfung beiträgt. Aufseiten der PatientInnen können allenfalls fördernde Steuerungsansätze aus der Kostenspirale führen, etwa die Belohnung von Prävention oder gesundheitsförderndem Verhalten. Größeren Erfolg verspricht finanzielle Steuerung aufseiten der AnbieterInnen, sei es über Positivlisten, Großgeräteverordnungen, kostendämpfende Honorierungsformen oder eine bessere Verzahnung der getrennten Versorgungsbereiche. Das ist indes politisch viel heikler. JENS HOLST