Das Prognosen-Grab

Drei Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl scheint das Rennen gelaufen. Voreilige Auguren sollten jedoch gewarnt sein: Zögerliche Wähler könnten ihre Vorhersagen durchkreuzen

VON MATTHIAS LOHRE

Für manche Experten steht der Sieger der Abgeordnetenhauswahl schon fest: Die CDU hat keine Chance, an der SPD noch vorbeizuziehen, sagte der FU-Politologe Oskar Niedermayer am Sonntag. „Für eine Aufholjagd ist es in den verbleibenden Wochen zu spät.“ Darüber hinaus wagt er aber keine Prognose. Denn das Wahlverhalten der Berliner ist unberechenbar geworden.

Angesichts der „heutigen Flexibilität“ beim Urnengang schließe er gar nichts mehr aus, so Niedermayer. Die Bürger entschieden sich immer später. „Bis zur letzten Woche, bis in die Wahlkabine hinein sind viele nicht festgelegt.“ Zu Monatsbeginn offenbarte eine Wahlumfrage des Meinungsforschungsinstituts, dass 20 Prozent der Berliner noch unentschieden sind, für wen – falls überhaupt – sie am Wahltag stimmen werden.

Das liegt nur zum Teil an der medialen Übermacht der Fußball-WM, die landespolitische Fragen über Wochen verdrängte. Hinzu kommt die fehlende Polarisierung im Wahlkampf. Anders als vor fünf Jahren, als die schwarz-rote Koalition im Bankenskandal zerbrach, fehlen eindeutig erkennbare Fronten. Mit der Arbeit des Senats sind die Berliner zufrieden, erst recht mit dem Auftreten des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD), den bei einer Direktwahl 62 Prozent der Befragten wählen würden. Sein CDU-Konkurrent Friedbert Pflüger käme auf 18 Prozent. Doch gerade die Siegesgewissheit der SPD könnte zu Überraschungen führen.

Der Effekt ist bekannt: Wenn Wahlen im Vorhinein als entschieden gelten, sinkt in vielen Fällen die Wahlbeteiligung. Warum soll ich zur Wahlurne gehen, so die verbreitete Empfindung, wenn es auf meine Stimme ohnehin nicht ankommt? Zudem konnte die CDU in früheren Wahlkämpfen ihre Wählerschaft stärker mobilisieren als die SPD – zumindest traditionell. Denn in Berlin ist besonders augenfällig, was Demoskopen, Politiker und Medien seit Jahren beunruhigt: Wer wie abstimmt, ist angesichts der schwindenden Parteienbindung vieler Bürger immer schwerer vorhersehbar.

Laut gestern veröffentlichten Daten von Emnid kommt die SPD derzeit auf 33 Prozent, die CDU auf 21 Prozent. Die Linkspartei liegt bei 16 Prozent, die Grünen bei 14 Prozent, die FDP bei neun. Rot-Rot käme demnach auf 49 Prozent der Stimmen. Das könnte für eine Mehrheit der Mandate im Abgeordnetenhaus reichen. Doch dem stehen noch einige „Wenns“ im Weg. „Mögliche Koalitionen hängen wesentlich vom Abschneiden der WASG ab, die in Berlin gegen die Linkspartei antritt“, urteilt Wahlforscher Niedermayer. Wenn die Wahlalternative der Linkspartei zwei oder drei Prozentpunkte abnimmt, ohne selbst die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, könnte das im Endergebnis schon für Rot-Grün reichen. Ob es die WASG schafft, wagt jedoch niemand zu sagen. Die statistische Schwankungsbreite bei allen Prognosen liegt bei plus/minus drei Prozentpunkten.

Ein ungewöhnliches Argument gegen das lange Zögern der Wähler vor dem Urnengang bringt Christoph Bruch, Bundesvorstandsmitglied der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, im Gespräch mit der taz in die Debatte: „Wenn Menschen sich aus dem Bauch heraus für die eine oder andere Partei entscheiden, unterstützen sie damit nicht unbedingt die Interessen, die sie wichtig finden.“ Manchmal sei es notwendig, taktisch zu wählen. „Wenn ich einen bestimmten SPD-Flügel stärken will, muss ich ja eher links oder rechts von der SPD wählen.“

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