Kunst kommt von Klauen

Die Rückgabe eines Kirchner-Gemäldes an die Erben der rechtmäßigen jüdischen Besitzer polarisiert: Kritiker halten dem Kultursenator Dilettantismus vor. In Berlin hängen noch weitere Werke, die als Nazi-Raubkunst gelten. Wie viele, ist unklar

von Nina Apin

Die Diskussion um Nazi-Raubkunst ist noch nicht beendet. Gestern stritt der Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses über die bereits erfolgte Rückgabe eines Gemäldes von Ernst-Ludwig-Kirchner an die Erben der ursprünglichen jüdischen Eigentümer. Das Werk „Berliner Straßenszene“ von 1913, das als Schlüsselwerk des Expressionismus gilt, wurde Anfang Juni nach zwei Jahre dauernden Verhandlungen der in England lebenden Erbin des jüdischen Sammlers Alfred Hess übergeben. Damit ist die Frage der Restitution von Gemälden aus staatlichen Museen wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Die Opposition im Abgeordnetenhaus und der Freundes- und Förderkreis des Brücke-Museums, in dem die „Berliner Straßenszene“ seit 1980 hing, kritisierten die Rückgabe scharf. Der Verlust des Werks habe die Museumslandschaft schwer geschädigt. Kunstexperten wie der ehemalige Kulturstaatssekretär Ludwig von Pufendorf meldeten Zweifel an den Ansprüchen der in England lebenden Erbin Anita Halpin an. Dass die Familie Hess die „Straßenszene“ 1936 wegen „rassischer Verfolgung“ an einen deutschen Kunstsammler verkaufte, könne nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Kultursenator Thomas Flierl (PDS) verteidigte sich vehement gegen die Vorwürfe. Man habe sich an nationale und internationale Vereinbarungen über die Rückgabe von Kunstwerken gehalten, so Flierl. Bei der Kunstsammlung des Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess handele es sich um „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Vermögen“. Die Behauptung, eine Rückgabe des Kirchner-Bilds sei unnötig gewesen, stelle die juristischen und moralischen Grundlagen der Restitutionspraxis in Frage.

Wie man mit Museumsbeständen umgeht, die durch Beschlagnahmungen, Zwangsverkäufe und andere Transaktionen während der Nazizeit erworben wurden, ist in der Tat eine heikle Angelegenheit. Zwar geben die 1998 auf der Washingtoner „Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust“ verabschiedeten Richtlinien und eine Bundeserklärung zur „Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“, von 1999 entsprechende Richtlinien vor. Doch diese sind nicht juristisch bindend. Von sich aus werden die Museen selten tätig.

Oft erfahren sie von der zweifelhaften Herkunft eines Bildes überhaupt erst, wenn Erben der rechtmäßigen Besitzer Rückgabeansprüche anmelden. Die Entscheidungen werden je nach Einzelfall und nach sorgfältiger juristischer Abwägung getroffen. Schon einmal versuchte die Erbin Anita Halpin, das Kirchner-Bild „Potsdamer Platz“ von der Nationalgalerie zurückzufordern. Das Museum wies den Restitutionsanspruch zurück. Es wies nach, dass die Familie Hess dieses Bild bereits 1930, also vor der „Machtergreifung“ durch die Nazis, verkauft hatte.

Auch momentan laufen im Brücke-Museum, der Nationalgalerie und anderen staatlichen Museen einige Restitutionsverfahren. Seit 1999 gab die Stiftung Preußischer Kulturbesitz 19 Bilder an ihre Eigentümer zurück, in drei Fällen lehnt sie die Rückgabe ab. In vielen Fällen gelang es, die Erben finanziell zu entschädigen und die Gemälde als Dauerleihgaben für die Berliner Museumslandschaft zu erhalten.

Weil solche Transaktionen meist diskret unter Anwälten, Sponsoren und den Museen ausgehandelt werden, geschehen sie von der Öffentlichkeit unbemerkt. Das Caspar-David-Friedrich-Gemälde „Watzmann“ etwa hängt bis heute unverändert in der Nationalgalerie. Dass es seit 2004 eine Dauerleihgabe ist, dessen Kaufpreis von einer Bank gesponsert wurde, sieht der Museumsbesucher nicht. „Wie viele Rückforderungen noch auf uns zukommen werden, können wir nicht absehen“, sagt Stefanie Heinlein, Sprecherin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Um Überraschungen vorzubeugen, hat die Stiftung jetzt angefangen, von sich aus die Herkunft ihrer Bestände zu überprüfen. Eine Forschungsstelle untersucht, wie viele der zwischen 1939 und 1945 erworbenen Werke ehemals jüdisches Eigentum sind, das verfolgungsbedingt verkauft oder entschädigungslos durch staatliche Maßnahmen den Museen zugewiesen wurde.

Bis die oft komplizierten Akten durchgearbeitet sind, wird es noch Jahre dauern. Doch eine erste Bilanz für die Nationalgalerie fällt positiv aus. Die überwiegende Anzahl der Werke ist „sauberer Bestand“, so ein Bericht.

Kirchners „Straßenszene“ wird in Berlin wahrscheinlich nicht mehr zu sehen sein. Das Bild soll am 8. November in New York für 18 bis 25 Millionen Dollar versteigert werden. Bemühungen der Stadt, das Gemälde zu kaufen und als Dauerleihgabe in der Stadt zu halten, scheiterten am hohen Kaufpreis.

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