Schwedische Verhältnisse in Brunsbüttel

Atomkraft ist sicher? Atomkraft ist vor allem technisch komplex! Nur wer ins Detail geht, kann beantworten, wie wahrscheinlich der schwedische Beinahe-GAU in einem deutschen Reaktor ist. Da stellen sich viele Fragen. Hier sind neun davon

VON NICK REIMER

1. Was ist im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark gleich nochmal passiert?

Ein Kurzschluss im Stromnetz. Das AKW trennte sich daraufhin automatisch vom Netz, allerdings mit einer winzigen, unzulässigen Zeitverzögerung – der atomar produzierte Strom konnte also nicht mehr abgeleitet werden. Weil das unweigerlich dazu führt, dass sich ungeheure Energiemengen aufstauen, muss die Kettenreaktion im Reaktorkern unterbrochen werden – per Notabschaltung. Der Strom für die Notabschaltung, für die weitere Reaktorsteuerung und die noch tagelang notwendige Kühlung muss von einer Notstromversorgung kommen. Die funktionierte in Forsmark nicht korrekt.

2. Wie schwer war der Vorfall tatsächlich?

Details sind immer noch unklar. Die schwedische Reaktorsicherheitskommission stufte den Fall auf der achtstufigen Störfallskala zuerst mit „zwei“ ein. Dann erklärte der Vorsitzende Björn Karlsson, „Einzelheiten haben das Bild deutlich verschlechtert“. Inzwischen gilt Forsmark als „der schlimmste Vorfall in der Geschichte der Atomkraft in Schweden“. Mitte September soll der nächste Bericht folgen.

3. Was bedeutet „schlimmster Vorfall“?

Nehmen wir die Erklärung von VGB PowerTech, Vertreter des Reaktorherstellers Siemens KWU. VGB-Experten hatten diese Darstellung der Reaktorsicherheitskommission der Bundesregierung vor einer Woche vorgetragen, die Unterlagen liegen der taz vor. Darin werden die Abläufe des 25. Juli sekundengenau zwischen 13:20:20 bis 13:21:02 beschrieben. „Einspeiseschalter von 6kV auf 500V-Schiene immer noch auf“, heißt der letzte Eintrag. Übersetzt: Das Aggregat liefert keinen Notstrom zur Kühlung des Reaktors.

Genau wie Brunsbüttel ist Forsmark ein Siedewasser-Reaktor: Wird nicht richtig gekühlt, verdampft zu viel von der Kühlflüssigkeit, in der der Reaktorkern steht. Nach den detaillierten Angaben zu den Vorgängen in Forsmark heißt es bei 13:21:02: „In den folgenden 20 Minuten war die Schicht unter anderem mit folgenden Tätigkeiten beschäftigt: Prüfung der aktuellen Reaktorleistung mittels verschiedener Bilanzen“. Übersetzt heißt das: 20 Minuten waren die Messinstrumente ausgefallen. 20 Minuten hatte die Crew in Forsmark keine Ahnung, was im Reaktor geschah, und also auch keine Chance, diese Vorgänge zu beeinflussen.

Eine weitere Tätigkeit, die die VGB-Experten binnen dieser 20 Minuten beschreiben: „Vorbereitung von Notfallprozeduren, die bei einem Reaktordruckbehälter-Füllstand kleiner 1,50 Meter ausgelöst werden sollen. (hat sich aber bei 1,90 stabilisiert)“. Übersetzt: 40 Zentimeter fehlten bis zum Chaos! „Niemals darf der Reaktor trockenfallen, denn das ist der Beginn der Kernschmelze“, urteilt Gerd Rosenkranz, Experte bei der Deutschen Umwelthilfe.

Um 13:42:01 springen die Systeme endlich an: „Alle Steuerstabanzeigen arbeiten wieder.“ Für 13:42:16 wird notiert: „Prozessrechner wieder verfügbar“. Und dann heißt es lapidar: „Transiente beendet, kein Dry-out“. Übersetzt: Der Reaktorkern ist noch heil – trotz 20-minütigem Blindflug. Vor der Katastrophe von Tschernobyl dauerte der Blindflug nur Sekunden.

4. Was hat das mit Brunsbüttel zu tun?

Sehr viel. In einem zweiten Vortrag vor der Reaktorsicherheitskommission gingen Experten von Vattenfall auf die Notstromversorgung des AKW Brunsbüttel ein. Auch diese Unterlagen liegen der taz vor. In den Schaltplänen sind Wechselrichter eingezeichnet, ein Steuerelement für Wechselstrom – obwohl Vattenfall stets behauptet hatte, Forsmark sei nicht möglich hier, „weil wir mit Gleichstrom arbeiten“.

Das Eingeständnis, bei wichtigen Sicherheitssystemen doch von Wechselstrom abhängig zu sein, war dann Anlass für das Ultimatum des Bundesumweltministers: Sigmar Gabriel forderte von Vattenfall bis vergangenen Montagabend den Nachweis, dass die Notstromversorgung in Brunsbüttel ausreichend sicher ist. Betreiber Vattenfall Europe Nuclear Energy (VENE) reichte daraufhin in Kiel eine siebenseitige Stellungnahme ein. VENE-Chef Bruno Thomauske: „Brunsbüttel ist besonders gut auf mögliche Störungen in der Stromversorgung vorbereitet.“

5. Wie vergleichbar sind die Notstromversorgungen von Brunsbüttel und Forsmark?

Die technologische Idee ist dieselbe, ihre Umsetzung allerdings anders. In Forsmark sind vier Notstromdiesel installiert, die über eine jeweils eigene Leitung Notstrom liefern sollen. Freigegeben werden diese Leitungen von Wechselrichtern. Zwei der vier Steueraggregate versagten in Schweden. In Brunsbüttel sind drei Notstromdiesel mit zwei Leitungen installiert. Falls einmal eine Leitung – so die technologische Idee – ausfällt, soll der in Reserve stehende Diesel zusätzlich auf die noch intakte Leitung geschaltet werden. Danach werden nach einem computergesteuerten Schaltprogramm die an der defekten Schiene hängenden Aggregate auf diese Leitung geschaltet – ein hochkomplexer, fehleranfälliger Vorgang. Komplexer jedenfalls als der, der in Forsmark versagte.

6. Ist also Brunsbüttel so anfällig wie Forsmark?

Das Notstromsystem sicherlich. In Forsmark aber war dieses System tatsächlich letzte Sicherheitsschranke – und fiel teilweise aus. Brunsbüttel hat dagegen noch ein weiteres System namens „EUE“. Experten wie der frühere Sicherheits-Chefingenieur von Forsmark aber sagen: Das Sicherheitsniveau von Brunsbüttel sei schlechter als das in Forsmark.

Dafür gibt es Belege, die allerdings in Expertenkreisen unterschiedlich bewertet werden. Ein internes Papier der deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit aus dem Jahr 2002 weist Brunsbüttel gravierende „Planungsfehler in der Notstromversorgung und in der Steuerung mehrerer Not- und Nachkühleinrichtungen“ auf.

7. Wenn die Technik tatsächlich so anfällig ist, wie die Kritiker behaupten – warum ging das dann so lange gut?

Ging es nicht. O-Ton Gesellschaft für Reaktorsicherheit: „Das Kernkraftwerk Brunsbüttel (KKB) informierte mit drei Ereignismeldungen am 17. 07. 2002, 27. 08. 2002 und am 12. 09. 2002 über Fehler in der Notstromversorgung und der Steuerung der Not- und Nachkühleinrichtungen. Die gefundenen Fehler hätten sowohl bei Störfällen innerhalb der Auslegung als auch bei auslegungsüberschreitenden Ereignissen … teilweise zu hohen Unverfügbarkeiten im Sicherheitssystem führen können.“

8. Hätte die Atomaufsicht nicht schon früher prüfen müssen?

Hat sie. Die Reaktorsicherheitskommission des Bundes tagte mehrfach zum Fall Brunsbüttel. Vattenfall musste sich zudem gegenüber der Kieler Aufsichtsbehörde mehrfach äußern. Die Betreiber mussten sechs „Planungsfehler in der Steuerung der Notstromversorgung“ einräumen, drei „Abweichungen an den Schutzfunktionen beim Notstromfall“ zugeben und zwei „Abweichungen bei der Steuerung der Not- und Nachkühlsysteme“ bestätigen. Sie argumentierten aber, „dass in den meisten Fällen ausreichende Redundanzen zur Verfügung standen“. Redundanzen meint Ausweichmöglichkeiten. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, sagt dazu: „Eine solche Darstellung wäre Grund genug, einem Würstchenbudenbesitzer die Lizenz zu entziehen.“ Brunsbüttel aber ging im Februar 2003 nach einjähriger Reparatur und Inspektion wieder in Betrieb – mit Zustimmung der Kieler Atomaufsicht.

9. Ist die deutsche Atomaufsicht vertrauenswürdig?

Leider nur bedingt. Der Sachverstand der externen Experten und derer, die in den Ministerien arbeiten, besteht zweifelsfrei. Die Frage aber ist: Verstehen und beherzigen die zuständigen Politiker auch den Rat der Experten? Schleswig-Holsteins oberste Atomaufseherin, Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), etwa beschwerte sich bei Bundesumweltminister Gabriel, von Forsmark aus der Presse – und nicht aus seinem Ministerium – erfahren zu haben. Tatsächlich aber hätte es Trauernicht besser wissen können. Als Atomaufsichtsbehörde ist auch ihr Haus an das Internationale Störfall-Meldesystem INES angeschlossen.

Die Deutsche Umwelthilfe wirft der Kieler Aufsichtsbehörde vor, eine Liste mit 260 Nachrüstforderungen unter der Decke zu halten. Diese Liste werde für den Fall in der Schublade gehalten, dass der Betreiber – wie erklärt – eine Laufzeitverlängerung beantragt, so der Vorwurf. Im Interview mit der taz bestätigte Ministerin Trauernicht zwar, dass es „eine Liste mit sehr vielen offenen Punkten gibt, aber keine Liste mit 260 Sicherheitsmängeln“. Der konstruierte Zusammenhang sei „Quark“.

Allerdings verweigerte Gitta Trauernicht dem Interview die Freigabe. Was insofern delikat ist, als die Ministerin sowohl dem Betreiber als auch dem Bundesumweltminister schlechte Informationspolitik vorwirft.