Abschied vom Pharao

Er galt als Begründer des modernen ägyptischen Romans und als Symbolfigur des säkularen Bürgertums seines Landes. Doch erst durch den Nobelpreis für Literatur wurde er 1988 weltweit bekannt. Im Alter von 95 Jahren ist Nagib Machfus nun in seiner Heimatstadt Kairo gestorben. Ein Nachruf

Bis auf Reisen nach Alexandria soll Machfus Kairo nie verlassen haben. Selbst den Nobelpreis ließ er von seinen Töchtern abholen

VON LEWIS GROPP
und DANIEL BAX

Der ägyptische Romancier Nagib Machfus zählt zu jenen Schriftstellern, die erst durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur auch hierzulande bekannt geworden sind. Als ihm 1988 der Nobelpreis zugesprochen wurde, lag praktisch keines seiner Werke in deutscher Sprache vor. Lediglich aus der DDR, wo 1979 der erste Roman erschienen war, gab es Übersetzungen.

Dabei gilt Nagib Machfus unbestritten als „Vater des ägyptischen Romans“ und wurde häufig in einem Atemzug mit europäischen Klassikern wie Balzac, Tolstoi, Dickens oder Thomas Mann verglichen. Wie bei diesen Romanciers ist auch sein Werk eng mit einer bestimmten Stadt verbunden: mit Kairo, wo er als Sohn eines kleinen Regierungsbeamten im Altstadtviertel Gamalija aufwuchs. Es heißt, Nagib Machfus habe – von einigen wenigen Ausflügen nach Alexandria abgesehen – sein ganzes Leben in Kairo verbracht. Fest steht jedenfalls, dass der literarische Wendekreis von Machfus nicht über die Stadtgrenze Kairos hinausreicht und ganz aus dessen Mikrokosmos schöpft. Die Straßen von Kairo, seine Teehäuser und Intellektuellen-Treffpunkte waren seine Welt. Nie hat er seinen Fuß ins Ausland gesetzt; selbst den Nobelpreis mussten seine Töchter für ihn abholen. Damit aber avancierte der Mann, der 1911 als jüngstes von sieben Kindern in einem kleinbürgerlichen Milieu in Ägyptens Hauptstadt aufwuchs, zu einer der großen Figuren der Weltliteratur.

Der lokale Bezug war für Machfus lediglich Ausgangspunkt für eine allgemeine Darstellung der condicio humana. „Kairo ist bei Machfus ein Mikrokosmos der gesamten Welt“, urteilte einmal ein ägyptischer Autor und Kritiker, „ein Sinnbild für das Schicksal des Menschen an sich.“ Mit seinen ersten Romanen war Machfus unmittelbar an der Entstehungsgeschichte des modernen arabischen Romans beteiligt; als Königsdisziplin der arabischen Literatur gilt – mit Einschränkungen bis heute – die Lyrik; der Roman als literarisch eigenständige Gattung entsteht erst Anfang des 20. Jahrhunderts.

Im Schatten des britischen Kolonialsystems besann sich Machfus zunächst auf die verschüttete Größe der ägyptischen Geschichte: die ersten drei Romane erschienen in den Jahren 1939–1944 und beschreiben das Leben in der Zeit der Pharaonen. Für Machfus waren diese historischen Romane zugleich ein probates Mittel, die gesellschaftlichen und politischen Zustände der Gegenwart zu kritisieren. Dabei betätigte er sich indessen nicht als Umstürzler oder Revolutionär, der an den Säulen der Gesellschaft rüttelt, sondern vielmehr als ein taktisch agierender Kommentator, der klug genug ist, nicht seine Deckung preiszugeben. Für Machfus stand immerhin auch eine öffentliche Laufbahn auf dem Spiel: bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1971 arbeitete er hauptberuflich im ägyptischen Bildungsministerium und schrieb die meisten seiner Bücher, Theaterstücke und Drehbücher für Filme in seiner Freizeit.

Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, der Zerfall der Monarchie, die wachsenden sozialen Gegensätze sowie die Hoffnung auf Befreiung vom britischen Kolonialsystem ließen Machfus seinen ursprünglichen Plan, die Geschichte der Pharaonen in vierzig Romanen darzustellen, aufgeben zugunsten eines literarischen Blicks auf den Alltag im Kairo der Gegenwart. Abschluss und Höhepunkt der realistischen Phase, in der auch die Romane „Die Midaq-Gasse“ und „Anfang und Ende“ entstehen, ist die „Kairo-Trilogie“, die das Schicksal einer Kaufmannsfamilie über drei Generationen verfolgt. Ihre Veröffentlichung 1956/57 macht ihn auf einen Schlag zu einem der führenden Schriftsteller der arabischen Welt und brachte ihm in Ägypten offizielle Anerkennung ein.

Für einen handfesten Skandal sorgte dagegen 1959 sein Roman „Die Kinder unseres Viertels“, in dem es um Wissen, Glauben und falsche Heilsversprechen geht. In dieser Parabel auf die Menschheitsgeschichte treten Figuren auf, die an biblisches Personal wie Adam, Moses und Jesus sowie an den Propheten Mohammed erinnern. Nachdem die ersten Kapitel des Buchs in der halbstaatlichen Zeitung Al-Ahram erschienen waren, erzwangen Proteste des religiösen Establishments das Ende des Vorabdrucks, man warf dem Autor „Gotteslästerung“ vor. Bis heute ist der Roman in Ägypten nicht regulär erschienen, und die in einem libanesischen Verlag erschienene Ausgabe kursiert unter dem Ladentisch.

Schon als er den Friedensschluss des ägyptischen Präsidenten Sadat mit Israel unterstützt hatte, zog er die Kritik fundamentalistischer und nationalistischer Kreise auf sich. Religiöse wie radikalislamische Kreise werteten die Verleihung des Nobelpreises an Nagib Machfus denn auch als Affront. Im Oktober 1994, mit 82 Jahren, bekam Nagib Machfus die Folgen zu spüren: Bei einer Messerattacke von Fundamentalisten wurde er vor seiner Wohnung im Stadtteil Azouza niedergestochen, seitdem lebte er unter Personenschutz. Doch bis zu- letzt blieb Nagib Machfus ein politischer Mensch, der bis zu seinem Tod in seiner Zeitungskolumne in Al-Ahram seine Kommentare zum Weltgeschehen abgab.

Der Nobelpreis markierte sicher die Krönung des schriftstellerischen Werks von Nagib Machfus, der seine wichtigsten Romane in den 50er- und 60er-Jahren verfasst hat. Schon vor der Nobelpreisverleihung hatte der schweizerische Unionsverlag, der sich seit seiner Gründung für Literatur aus Entwicklungsländern stark macht, die Rechte eingekauft – die Agentur steht trotz hartnäckigen Anfragen anderer Verlage zu dem Deal. Als Gegenleistung hat Lucien Leitess nahezu das gesamte Werk Machfus’ ins Deutsche übersetzen lassen – auch diejenigen Werke späterer Phasen, deren literarischer Wert umstritten ist.

Zuletzt sorgte die Ankündigung, „Die Kinder unseres Viertels“ würde nun endlich doch in Ägypten erscheinen, für Erstaunen und Verwirrung unter Kollegen und Freunden. Denn Machfus, so ging das Gerücht, wolle sich für die Neuausgabe ausgerechnet den Segen der Azhar-Universität und damit jener religiösen Instanz einholen, die für den Bann verantwortlich gewesen war. Unklar blieb, ob er sich dafür mit einem begleitenden Vorwort oder gar mit Kürzungen einverstanden erklärt haben soll. Am Dienstag starb Nagib Machfus im Alter von 94 Jahren im Krankenhaus in Kairo, wo er seit dem Juli gelegen hatte.