Sarrazin auf der Anklagebank

Die letzte Parlamentssitzung nutzen nicht nur CDU, FDP und Grüne zum Abwatschen des Senats. Auch der Regierungschef teilt derbe aus – gegen seinen Finanzsenator. Missbilligung von Flierl gescheitert

VON MATTHIAS LOHRE

Ausgerechnet Klaus Wowereit. Ausgerechnet er, der sich selbst zum Sinnbild für die gute Laune in Berlin gemacht hat, kritisierte die eigene Mannschaft am schärfsten. Was die oppositionellen CDU, FDP und Grünen nicht vermocht hatten, das schaffte der Regierungschef. Er war richtig rotzig.

Mit Blick auf seinen wichtigsten Mitstreiter beim rigiden Sparkurs sagte Wowereit gestern unter dem Glasdach des Abgeordnetenhaus-Plenums: „Der Finanzsenator Sarrazin ist ja bekannt für seine passenden und meistens unpassenden Vergleiche.“ Sarrazin, nur wenige Meter von seinem Chef entfernt, tat, was er sehr gut kann: Er ließ sich nichts anmerken. Vielleicht würde ja die Schelte für sein am Mittwoch bekannt gewordenes Interview vorüber sein. Sarrazin hatte im Gespräch mit der Zeit die Situation Berlins heute mit der im Jahr 1947 verglichen. Bislang sei erst der Schutt weggeräumt. Solche Sätze will ein Regierungschef nicht hören, weniger als drei Wochen vor der Wahl.

Die Schelte war nicht vorüber. „Man freut sich ja manchmal, wenn er nichts sagt.“ In diesem Moment heulte selbst die CDU-Fraktion leise auf. So abgewatscht zu werden, das möchte niemand. Sein Finanzsenator verstehe sich bekanntlich als eigentliche Opposition in Berlin, sagte Wowereit. „Wenn er sich als Opposition versteht, dann hat er das heute geschafft.“ Ein Glück für Sarrazin, dass die Rede des Regierenden damit nicht zu Ende war. Wowereit hatte noch jede Menge Häme für die offizielle Opposition übrig.

In Richtung des FDP-Fraktionschefs Martin Lindner ätzte er: Wie der „wahre Oppositionsführer“, als der Lindner oft bezeichnet werde, wirke der gar nicht auf ihn. „Sie sehen heute ganz blass aus.“ Besonders leicht hatte es der Regierende bei Nicolas Zimmer. Der unscheinbare CDU-Fraktionschef muss seinen Job nach der Wahl Spitzenkandidat Friedbert Pflüger zur Verfügung stellen. Davor könnte Zimmer nur ein Wahlsieg retten. Nach dem sieht es bekanntlich nicht aus. Mit einer wegwerfenden Handbewegung hielt Wowereit dem Unionschef entgegen: „Herr Zimmer hat seine Abschiedsrede gehalten, okay.“ Dessen Parteifreunde hätten eine „wunderbare kollektive Wahlkampfleistung“ vollbracht, ihrem Frontmann gerade jetzt den „Stuhl wegzuziehen“.

Mit seinen Verbalattacken hob Wowereit zwar nicht das Debattenniveau. Aber darauf hatten es auch seine Vorredner nicht angelegt. Der vermeintlich „blasse“ FDP-Chef Lindner hatte zu Beginn ungewohnterweise nicht auf seine Fähigkeit zum Dreinschlagen vertraut. Seine Bilanz von viereinhalb Jahren rot-rotem Senat verpackte er in Statistiken: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sei seit 2001 um 113.000 gesunken. Mehr als 500.000 Berliner – und damit 70.000 mehr als vor fünf Jahren – gälten als arm. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen liege 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Die FDP wolle das ändern, nicht jammern. „Wir machen Berlin nicht mies“, sagte Lindner. „Das macht der Kollege Sarrazin.“

Als hätten sich FDP und SPD verbündet, begann auch SPD-Fraktionschef Michael Müller seine Rede mit einem Angriff auf Parteifreund Sarrazin. „Berlin 2006 ist nicht zu vergleichen mit Berlin 1947.“ Das werde der Lebensleistung der Berliner seit Kriegsende nicht gerecht. Auch in diesem Moment schaffte es der Finanzsenator, unbewegt zu wirken.

Müller rief schnell die Regierungserfolge der Legislaturperiode in Erinnerung: den Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 17,4 Prozent – zwei Prozent weniger als vor einem Jahr. Zu den Erfolgen zähle auch der hart erkämpfte Solidarpakt im öffentlichen Dienst, das Ende der Milliarden Euro teuren Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau und die anstehende Privatisierung der vor wenigen Jahren hochverschuldeten Bankgesellschaft Berlin. Weil sich daran nur wenige Berliner erinnern, erwähnte Müller am Ende einen SPD-Wahlkampfknüller: das kostenfreie letzte Kitajahr ab 2007. Auch alle weiteren Kitajahre sollen laut SPD-Führung in der kommenden Legislaturperiode schrittweise kostenfrei werden.

CDU-Fraktionschef Zimmer, der später so unfein an seinen Karriereknick erinnert werden sollte, versuchte in seiner 15-minütigen Rede, alle sieben anwesenden Senatoren der Unfähigkeit zu überführen, Regierungschef Wowereit inklusive. In der Eile hätte Zimmer fast Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) vergessen. Die PDS-Fraktion war so freundlich, ihn an sie zu erinnern.

Doch wie so oft war Kultursenator Thomas Flierl (Linkspartei) Hauptziel der Union. Mit Blick auf dessen unrühmliches Schweigen bei einem Auftritt von ehemaligen Stasioffizieren in Hohenschönhausen vor einem halben Jahr urteilte Zimmer: Flierl habe bekanntlich „immer große Schwierigkeiten gehabt“, zwischen „Stasischergen“ und deren Opfern zu unterscheiden. Mit ihrem Antrag auf Missbilligung des Kultursenators wegen des Verkaufs eines Gemäldes von Ernst-Ludwig Kirchner kam die Union nicht durch. Die Mehrheit von SPD und Linkspartei lehnte ihn wie nicht anders zu erwarten ab. Politisch hätte er ohnehin keine Folgen gehabt. Für die Linkspartei hielt Fraktionschef Stefan Liebich der CDU vor, sie wolle „aus einer schwierigen juristischen und historischen Frage, die viel Fingerspitzengefühl verlangt, einen Holzhammer gegen unseren Kultursenator“ basteln.

Die Grünen hatten es besonders schwer. Sie wollen mit der SPD regieren, täten es zur Not auch mit SPD und Linkspartei. Trotzdem müssen sie Opposition betreiben. In den Worten von Fraktionschef Volker Ratzmann klang das so: Diese Koalition habe abgewirtschaftet, Rot-Grün sei die beliebteste Regierungskonstellation. Sarrazin habe mit seinem Vergleich von 1947 und 2006 eine „saubere Leistung“ abgeliefert – „typisch Rot-Rot“. Wieder blieb Sarrazin ruhig. Hätte er gewusst, was sein Chef da noch an Schmähungen für ihn bereithielt, vielleicht hätte er in diesem Moment gelächelt.