Kucken und Kacken

Der Maler und Dichter Dieter Roth pumpte pausenlos Alltagserfahrung in die Kunst. Eine Allianz deutscher Musiker setzt ihm jetzt ein Denkmal mit einer CD. Titel: „Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische scheiße und nie gehörte Musik“

„Wenn sich das Leben richtet nach dem Falle wieder auf, hab ich die Falle schon gesichtet und haue dem Leben eins drauf“

VON JULIAN WEBER

Auf die Frage nach seiner Idealvorstellung von Glück antwortete Dieter Roth einmal: „alles verdauen“. Diese Aussage charakterisiert auch den 1998 verstorbenen deutsch-schweizerische Künstler, der Leben und Werk zum Work-in-Progress-(Kunst-) Darm gemacht hat. Andere Baustelle, ähnlicher Auftrag: Roth ist inzwischen zum Namenspatron eines oRchesters geworden. Es hat einige der unzähligen Roth-Gedichte und -Sentenzen vertont. Der Albumtitel „Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische scheiße und nie gehörte musik“ spielt auf Gedichtzeilen und Schallplattentitel an und hält sich dabei an des Künstlers Maxime „Je genauer ein Satz beschreiben will, desto länger muss er sein, oder eigentlich: Desto länger muss er werden.“

Roth war Grafiker, Schmuck- und Möbeldesigner, Filmemacher, Maler und Bildhauer, angefangen hat er als Dichter, erklärte Roth 1981 in einem Interview. Unter dem Pseudonym Dieter Schwarz interviewte sich Roth 1986 auch selbst. Heute werden Patchwork-Biografie und Crossmarketing als Selbstverwirklichungsstrategien für jede Form entsublimierter Arbeit vorausgesetzt. „Angst“ hat Dieter Roth einmal als Inspirationsquelle seines Produktivitätswustes genannt. Als Künstler war er privilegiert, sich gegen die Herrschaft der Produkte über den Menschen zu behaupten. 1976 heftete er flache Abfallgegenstände in Klarsichthüllen und legte sie in 366 „Tagesordnern“ ab.

An den Aufnahmen des Dieter Roth oRchesters ist der Künstler selbst vollkommen unbeteiligt. Die Mogelpackung hätte ihm trotzdem gefallen. Sie entstand weitgehend unabhängig von kommerziellen Erwägungen, genau wie Dieter Roth abseits etablierter künstlerischer Verfeinerungstechniken tätig war. Lieber variierte er während eines Jahres in einer Schweizer Tageszeitung von ihm selbst aufgegebene Inserate. „Wer mir ein Filetsteak serviert, bekommt von mir zwei Filetsteaks serviert“, „Wer mir zwei Filetsteaks serviert, bekommt von mir ein Filetsteak zurückserviert“.

Das Dieter Roth oRchester geht ähnlich vor, vertont einzelne seiner Texte gleich mehrmals, tritt in immer neuen Kollaborationen zusammen, stellt Roths Prosa in musikalische Zusammenhänge und bereichert seine Textwelten akustisch. Popmechanismen entspricht das oRchester aber nie zu ehrfürchtig. Dieter Roth lässt sich retrospektiv auch gar nicht als Popkünstler eingemeinden. Auch wenn er zeitlebens Projekte verfolgt hat, die popähnlich sind, die die Warenförmigkeit von Kunst kompromisslos herausstellen, affirmativ und eventgeil war Dieter Roth jedoch nie. „Überhaupz und übrgns, was soll das, das Wort ‚Ereignis‘?“, fragte er sich in der Bastelnovelle „Das Original“.

Zusammengetrommelt haben das Dieter Roth oRchester der Berliner Künstler Wolfgang Müller (Die Tödliche Doris) und Barbara Schäfer von der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks. Müller entdeckte Anfang der Achtziger in einer Westberliner Grabbelkiste das im Hanser Verlag erschienene Dieter-Roth-Buch „Frühe Schriften und typische Scheiße“. „Der Titel klang in der Punkatmosphäre jener Zeit erfrischend“, erinnert sich Müller in den Linernotes, „besonders, wenn man ihn mit Titeln von Günter Grass, Martin Walser und Heinrich Böll verglich“. Müller steht zum Beispiel hinter dem Walter von Goethe Quartett, das sich Roths Gedicht „Das Leben“ vorgeknöpft hat. „Wenn sich das Leben richtet / nach dem Falle wieder auf / hab ich die Falle schon gesichtet / und haue dem Leben eins drauf“, aus Roths optischem Buchstaben-Esperanto wird im Mash-up aus Bänkelgesang und gepfiffener Hookline der gegenständliche Garagenchanson. Musik spielte bei Roths künstlerischen Stationen in der Schweiz, Österreich, den USA, Island und Deutschland eine nennenswerte Rolle, weil er damit aus seiner Isolation herauskam, Klangexperimente, Debatten und Kollaborationen mit anderen Künstlern verknüpfen konnte. 1973 erschien die „Novembersymphonie“, ein Doppelalbum als Teil der Serie „selten gehörte Musik“, die Roth zusammen mit Gerhard Rühm und Oswald Wiener auf zahlreichen Schallplatten veröffentlichte. Türklingel und schrillendes Telefon sind hier Musik geworden, ebenso wie kurze Gesprächssequenzen zu Stakkato-Ausfällen mit Cello, Xylofon und Waldhorn, „aber gesagt muss was werden / freilich sind die Kommentare mies / aber, was sie sagen ist schön / dadurch wird die Musik auch schön“. Im Inlet des Albums finden sich überzählige Vinylpapieraufkleber, „die Überbleibsel der Überbleibsel“. In einer anderen Folge singt Roth, sich selbst auf dem Klavier begleitend: „weg mit den Minuten, weg mit den Minuten“, bis zum Ende der Plattenseite.

Der Vergänglichkeit öffnete Roth ohnehin Tür und Tor, etwa mit verschimmelnden Skulpturen. Das Dieter-Roth-oRchester geht den umgekehrten Weg und bewahrt Roths Texte vor dem Vergessen. Es schafft eine d-i-y-Dada-Krautrock-Elektronik-Ästhetik, die es so noch gar nicht als Popgenre gegeben hat. Roths Definition von Musik hat er in der 1967 im New Yorker Verlag Great Bear publizierten Broschüre „A Look into the Blue Tide Pt. 2“ in einem Diagramm namens „For Instance Music“ dargestellt. In einem Rechteck zeichnete er gerade, nach rechts zeigende Pfeile und halbrunde Pfeile, die nach links, jeweils zurück zwischen die rechten Pfeile zielen. Die Geraden nennt er „Stücke aus einem Stück Musik“, die Halbrunden sind „Erinnerungen“.

Das Dieter Roth oRchester besteht aus Mouse On Mars, Trabant, Khan, Andreas Dorau, Stereo Total, Ghostigital, Mutter, Wolfgang Müller, Max Müller, Namosh, Armand & Bruno, Wollita und dem Walther von Goethe Quartett. Jeder der Roth-Interpreten erinnert sich mit einem anderen Stück Musik an Roths Texte. Mal wird die Sprache Roths eins zu eins in einen Songtext übertragen, mal radebrechend Deutsch in isländischer Zunge gesungen, oder sie geht völlig im Knistern eines skankenden Elektronikreggaes auf.

Aus Dieter Roth wurde schon in den Sechzigern Diter Rot. „Rots Interesse an Worten ist eher plastisch denn semantisch“, bemerkte sein englischer Künstlerfreund Richard Hamilton, „seine Texte überschreiten die Grenzen der Sprache, sie sind universell verständlich.“ Roth hat Kunst als offenes Alltagssystem verstanden, in das er pausenlos Lebenserfahrung einspeist und verhandelt. Statt konsistenter Formensprache wählte er Stillosigkeit zu seinem Gestaltungsprinzip. Kunst definierte er als „Kucken und Kacken“.

Oft laufen seine Kunstgegenstände ineinander über. In der oben genannten Broschüre „A Look into the Blue Tide Pt. 2“ übersetzte er etwa „aus der Farbe und aus dem Deutschen ins Schwarz-Weiße und Englische“. Zum Roth’schen Oeuvre gehören Rasterbilder und Stempelkästen, Weichplastiken aus Käse und Fleisch, große Fensterquadrate mit zerrieselnden Materialien und Siebdrucke aus Schokolade, gebackene Skulpturen, Ideogramme und konstruktivistische Stempelbilder. Die Aufnahmen des Dieter Roth Orchesters sind um einiges preiswerter als die Originalkunstgegenstände von ihm. Vielleicht sind sie Einstiegsdroge in ein unübersichtliches, verwildertes (Lebens-)Werk.

Vergangenes Jahr ist „Da drinnen vor dem Auge“, erschienen, ein Suhrkamp-Band mit „Lyrik und Prosa“ von Dieter Roth. Es lohnt allein wegen des Texts „Lebenslauf von 46 Jahren“. Roth „lebte in diese – damals eine gräuliche Heraufkommende – Zeit des Lebenslaufes, des abscheulichen Rennens, hinein bzw. herein, was von Widersachern der Menschen – den Menschen – Vollgestopftes und in Massen dickevoll Bevölkertes, wie ein Marmeladentopf dick gestrichen voll, wie ein vollgekackter Trauertopf“. Außerdem sind darin abgedruckt Ideogramme mit einzelnen Buchstaben und Satzzeichen, in Lautschrift verfasste Gedichte, Faxe, ein Nachwort, verschiedene Inserate, Notizen aus Tagebüchern, Briefe, handschriftliche Korrekturen an Buchtexten anderer Autoren und ein Vorwort: „Ganz einfach sollte ich sagen: Auf den Markt, warum werfe ich da jene Produkte drauf?“ Die Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von Hegels gesammelten Werken verarbeitete Roth einmal zu zwanzig mit Gewürzen und Schweineschmalz angereicherten Wurstdärmen und rahmte sie ein.

„Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische scheiße und nie gehörte musik“. intermedium records 026; Dieter Roth: „Da drinnen vor dem Auge“. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 304 Seiten, 10 €