Verliebte Hunde

In Zentrum von Mozarts Arien steht die Abschweifung. Anne Teresa De Keersmaeker demonstriert das zum Schluss des Berliner Festivals „Tanz im August“

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wer trippelt denn so zierlich? Tipp, tipp, tipp, ganz schnell und gestochen scharf. Ein Pudel, der auf Zehenspitzen läuft? Tatsächlich erinnern die drei Tänzerinnen, die mit gebauschten Röcken und in Knieschonern auf Knien und Fingerspitzen aberwitzig flink auf allen vieren trippeln, an verliebte Hunde. Sie schnuppern zart an den Kniekehlen der Männer, die gerade in flatternden Hemden und mit nackten Beinen auf die Bühne gekommen sind, und wedeln mit den durch bauschende Stoffe verbreiterten Hinterteilen.

Ja, geht das denn, zuerst von Hunden und anzüglichen Körperpositionen erzählen, wenn es sich um eine Choreografie zu Mozart-Arien von der Brüssler Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und ihrer Gruppe Rosas dreht? Müsste man nicht erst die Arbeit des Deutschen Symphonie-Orchesters im Graben loben, das seinen Mozart für eine ganz und gar körperliche Tanzmusik hergibt? Sind nicht die drei Sopranistinnen, die unbeirrt durch die Lieder der Liebe steuern, während einzelne Tänzer sie mit Umarmungen, Geflüster, einem Strip und weiterem Balzgehabe umgarnen, das Zentrum der Aufführung?

Ja doch und eher nein. Das ist es ja eben, dass im Zentrum der Musik und der Aufführung etwas die Sinne Verwirrendes steht, was umso mehr Schwindel erzeugt, je tiefer man hineinblickt. Die Konzentration auf das Eigentliche ist fast unmöglich – und also besteht die ganze Kunst darin, es in der Ablenkung und Abschweifung, in den Bewegungen des Verdrängens und der Wiederannäherung zu gestalten und erlebbar zu machen. Das war die Arbeit, die Mozart in den zehn Arien geleistet hat, die De Keersmaeker zusammen mit Klavierstücken und Menuetten ausgewählt hat; und das ist, was sie auf der Bühne geschehen lässt.

Entstanden ist eine Hommage an die Galanterie, ein Spiel mit Schnörkeln, Verzierungen und Uneindeutigkeiten, das immer wieder Vorwände schafft, Anlauf zu nehmen und nach Artikulation zu suchen. Es geht lebhaft auf der Bühne zu, oft laufen Szenen simultan. Vorne links reißt eine Tänzerin die barocke Musik mit rockigen Gesten auf, die Hände stechen in die Luft, sie schüttelt den Busen. Durch den Mittelgrund läuft ein langbezopfter Mann, dem sein Partner für ein Sprungduell abhandenkam; desorientiert setzt er nun hier und da zum Tanz an und kann seinen Ort nicht finden. Dazwischen rollt eine Reihe Tänzer über das Parkett und schüttelt die Köpfe. Im Liegen. Was vielleicht einmal Geste der Verunsicherung oder Missbilligung war, wird so verschoben nicht nur zu einem komischen Element, sondern auch zum Impuls, aus dem sich eine ganze Sequenz entwickelt.

Eine andere Szene ist aus der Berührung und Nichtberührung entwickelt. Eine Tänzerin wird erst von einem, dann von zwei, drei und immer mehr Männern berührt, aber nur fast – mit dem Handrücken an der Schulter, dem Fußgelenk am Knie, dem Ellbogen an der Hüfte und an all diesen Punkten entscheiden sich die Bewegungsrichtungen neu, von ihr und von ihnen, sodass sie am Ende ein ganzes Knäuel von Männern steuert. Gleichzeitig bildet sich seitlich eine Kette von Frauen, die mit kleinen Seufzern genüsslich in Ohnmacht fallen.

„Mozart/Concert Arias“ entstand 1992 und wurde von der Choreografin vor ein paar Jahren wiederaufgenommen. In Haus der Berliner Festspiele stand das Gastspiel jetzt am Ende des Festivals „Tanz im August“, das damit die Pflege eines Repertoires von zeitgenössischen Choreografien hervorhebt. Denn anders als die Stücke des klassischen Balletts verschwinden viele moderne Choreografien nach wenigen Jahren. Michèle Anne de Mey, Choreografin aus Charleroi, hatte das Berliner Tanzfest mit der Wiederaufnahme eines Stücks von 1990 eröffnet, „Sinfonia Eroica“, das sie mit sehr jungen Tänzern neu erarbeitet hatte. De Keersmaeker holte die ursprüngliche Besetzung zusammen.

Viele Stücke von De Keersmaeker, De Mey oder auch Alain Platel haben die Aufführungspraxis klassischer Musik verändert. Der historische Abstand spielt plötzlich kaum noch eine Rolle. In „Mozart/Concert Arias“ scheint die Sinnlichkeit der Musik mit Händen greifbar. Dabei benutzt De Keersmaeker in diesem Stück viel mehr Spielmaterial des Balletts und Zitate narzisstischen Virtuosentums als sonst in ihren oft strengen Kompositionen. Das wird aber so flüssig aufgelöst und weitergeschrieben in einem freien Gestus, dass kaum Bruchstellen zu erkennen sind. Überhaupt ist die Natürlichkeit, die das artifizielle Material hier zurückerhält, das Erstaunlichste an dieser Choreografie.

Das sieht alles so einfach und leicht aus. Irgendein Teil der Vorstellungskraft kriecht beim Zuschauen in diese Körper auf der Bühne hinein, springt mit durch die Luft, dreht sich und rollt, ein müheloses Durchqueren aller Ebenen. Aber man muss nur mal versuchen, so schnell auf allen vieren zu krabbeln wie oben beschrieben – wie das sich anfühlt, wird besser verschwiegen.

„Mozart“. Noch am 2. September im Haus der Berliner Festspiele. Tourdaten der Rosas unter www.rosas.be