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: Lose flattern die weiblichen Lebensentwürfe

Cristina Nord ist in Venedig und schaut sich zwei Höhepunkte der Filmfestspiele an: „Fallen“ und „I Don’t Want To Sleep Alone“

Vor dem Palazzo del Cinema verhindern bauchhohe Absperrungen, dass die Schaulustigen den Regisseuren und Schauspielern zu nahe kommen. Besonders am Wochenende wird es eng auf diesem Abschnitt des Lungomare Marconi. Zwischen Strand und rotem Teppich drängen sich Teenager, Familienväter, Kleinkinder, Schoßhunde und Touristen. Manche lassen Edding-Markierungen zurück: „I love you“ steht dann auf den mit weißer Folie bezogenen Absperrungen, „Pulp Fiction“ oder „George“. Auf einem Screen rechter Hand des Eingangs wurden bis vor kurzem Aufnahmen vom diesjährigen Filmfestival in Cannes präsentiert. Dessen Leiter Thierry Frémaux und der Regisseur Ken Loach stehen vor den Pforten des Grand Théâtre Lumière, etwas später strebt Chloe Sevigny den roten Stufen entgegen, die Lippen leicht geschürzt. Mittlerweile hat man die Archivaufnahmen aus Cannes durch aktuelle Bilder vom Lido ersetzt.

Die Verbeugung gegenüber der Konkurrenz hat die Filmbiennale in diesem Jahr nicht nötig. Denn das Wettbewerbsprogramm ist so vielgestaltig, dass ich die wenigen langweiligen Ausnahmen sofort vergesse. Die österreichische Filmemacherin Barbara Albert zum Beispiel hat mit „Fallen“ einen bemerkenswerten Ensemblefilm gedreht. Sie erzählt von fünf Frauen Anfang, Mitte 30. Sie waren Schulfreundinnen, nach dem Abitur haben sie sich aus den Augen verloren. Weil ein Lehrer von ihnen gestorben ist, kommt es in der Friedhofskapelle ihrer Heimatstadt zu einem Wiedersehen. Diese Konstellation versorgt „Fallen“ mit einer Fülle biografischen Materials. Barbara Albert zurrt dieses Material jedoch nicht in einer abgeschlossenen Erzählung fest, sie lässt vielmehr die Enden lose flattern. Sehnsüchte und Enttäuschungen, Zufälle und Pläne, private und politische Vorstellungen vom guten, vom richtigen Leben, Gelingen und Scheitern: All dies lässt Albert zu einer schönen Skizze weiblicher Lebensentwürfe zusammenfließen.

Einen Höhepunkt des bisherigen Programms bildet Tsai Ming-Liangs neuer Film „Hei yanquan“ („I Don’t Want to Sleep Alone“). Der Schauspieler Lee Kang-Sheng, ohne den kein Film des taiwanesischen Regisseurs auskommt, ist hier in einer Doppelrolle zu sehen. Mit langem Haar spielt er einen mittelosen Fremden, mit kurzem Haar einen Kranken, der im Koma zu liegen scheint. Verbunden sind die beiden Figuren durch eine junge Kellnerin, die von Chen Shiang-Chyi gespielt wird. Diese Kellnerin verliebt sich in den Fremden; um den Kranken kümmert sie sich manchmal, da sie im Zwischenboden über dessen Bettstätte wohnt.

Schauplatz des Filmes ist Kuala Lumpur (Tsai Ming-liang lebt in Taiwan, ist aber in Malaysia zur Welt gekommen), die meisten Figuren sind Einwanderer – ohne Bindungen, ohne gemeinsame Sprache. Geredet wird wenig, Kommunikation findet vor allem dort statt, wo Körper behandelt werden: wo sie massiert, gewaschen, angezogen, ausgezogen werden – oder auch sexuell missbraucht und geschlagen. Die Einstellungen stehen meist so lang, wie es eben braucht, dem Kranken die Zähne zu putzen oder ihm das Haar zu waschen. Das Begehren richtet sich nicht auf ein klar umrissenes Ziel, es hat viele Ausdrucksformen und pulsiert in viele Richtungen – so hat nicht nur die Kellnerin ein Interesse an dem mittelosen Fremden, sondern auch ein junger Bauarbeiter aus Bangladesch.

Doch führen solche Versuche, den Plot von „Hei yanquan“ zu umreißen, zwangsläufig in die Irre, weil sie unterschlagen, wie sehr der Film Motive und Atmosphäre gegenüber Handlung und Psychologie privilegiert. Einer Matratze fällt fast die Bedeutung einer Hauptfigur zu; Flüssigkeiten spielen eine große Rolle, immer wieder sind Infusionsschläuche, Wassereimer und ein funkelnder, schwarzer See zu sehen. „Hei yanquan“ endet mit einem Bild dieses Sees: Vom oberen Rand treibt langsam eine Matratze dem Zuschauer entgegen. Darauf liegen die, die nicht mehr allein schlafen wollen. Ihnen folgt ein Leuchtkörper – er spendet ihren Träumen grünes, blaues und rotes Licht. CRISTINA NORD