Als die Kinder alleine waren

DDR-Vergangenheit: Zwei Dokumentarfilme über Familien, die von der Stasi zerrüttet wurden, kommen in die Kinos

Man kann es drehen und wenden, wie man will – aber leidenschaftliche erinnerungspolitische Debatten, wie auch nach über 60 Jahren noch über das „Dritte Reich“, wollen sich an der sehr viel jüngeren DDR-Geschichte partout nicht entzünden. Das spiegelt zumindest die Erfahrung von Anne Gollin, die 1982 unter dem Vorwurf der Verbreitung von Hetzliteratur von ihrem damals einjährigen Sohn getrennt und zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Als sie nach der Wende dem MfS-Offizier wiederbegegnete, der die Verhöre gegen sie geleitet hatte, bekannte der lapidar: „Ich hab ja genauso gedacht wie Sie.“ Mit ihrem inzwischen erwachsenen Sohn, der während ihrer Haft bei den Großeltern unterkam, hat Anne Gollin bis heute nicht über diese Zeit gesprochen.

Die Gollins sind eine jener drei Familien, die Marc Bauder und Dörte Franke in ihrem 72-minütigen Dokumentarfilm „jeder schweigt von etwas anderem“ (Kinostart: 14. 9.) in Einzelgesprächen porträtiert haben – exemplarisch für die rund 250.000 Menschen, die im Laufe der DDR-Geschichte aus politischen Gründen inhaftiert und später oft nach Westdeutschland abgeschoben wurden. In den durch die Trennung und die gezielten Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit emotional zerrütteten Familien wurden die verstörend unterschiedlichen Erfahrungshorizonte nach dem Wiedersehen erst einmal negiert. So erlebt es der 1979 wegen Verbreitung staatsfeindlicher Hetze inhaftierte Utz Rachowski bis heute als schwierig, sich mit anderen über seine Hafterlebnisse auszutauschen, weil die nicht im Entferntesten ahnen, „wie ein Tag in der Zelle aussieht“.

Für die erst später im Westen geborenen Kinder des Pastorenehepaares Storck, das 1979 verhaftet wurde, gehören die DDR-Erfahrungen ihrer Eltern zu einer grauen Vorgeschichte, an die sie nicht rühren wollen. Matthias Storck erklärt sich das Schweigen seiner Kinder damit, dass die Hilflosigkeit und Demütigung der Eltern auch innerfamiliär eingespielte Rollenmuster und Schamgrenzen durchbrechen würde: „Sie wissen einfach nicht, wie sie mit ihrem Vater darüber reden sollten, was für ein Gefühl er dabei hatte, als er einmal richtig durchgeprügelt wurde.“

Fast unfreiwillig wird man so zum Zeugen ausgebliebener familiärer Verständigungsprozesse. In den Einzelinterviews ist man mittendrin im psychodynamischen Geschehen. Und doch fehlt etwas. Das wird gerade spürbar in jenen Filmpassagen, die den Interviews zwischengeschaltet sind: surreal anmutenden, musikuntermalten Kamerafahrten entlang einer menschenleeren Ost-Tristesse, auf Paternosterfahrt in der Stasizentrale, im Vorüberziehen an endlosen Regalmetern vergilbender Akten.

Das Machtgefüge der DDR ist verwelkt – und nun? Sollte man als Zuschauer diesen Familien einfach Glück wünschen, wie den fiktiven Charakteren einer Soap, oder gibt es eigentlich auch noch Erkenntnisse über den realen Kontext des Machtapparates der DDR kontrovers zu analysieren, aufzuarbeiten, moralisch zu beherzigen? Das Interessante an Verdrängung ist ja, dass man sie nicht bemerkt, weil sie ganz mühelos vonstattengeht.

Auch der gerade in ausgesuchten Kinos angelaufene 67-minütige Dokumentarfilm „Zeit ohne Eltern“ (Deutschland 2005) der in Westdeutschland geborenen Regisseurin Celi Rothmund beschäftigt sich mit zwei DDR-Familien, die wegen ihres vehementen Ausreisewunsches in die Mühlen gerieten. Jana Simon und Franziska Kriebisch waren bereits zehn Jahre alt, als ihre Eltern verhaftet wurden und sie selbst im Kinderheim oder bei ihren Großeltern landeten. Und hier wird zwischen Eltern und Kindern ein gemeinsamer Bezug auf das Erlebte wenigstens insofern spürbar, als sich bei beiden Familien die Einzelinterviews durch geschickte Schnitte zu jeweils kohärenten und widerspruchsfreien Familiengeschichten zusammenfügen.

Doch auch diese Dokumentation scheint von der Hoffnung zu zehren, das in der Erzählung wieder durchlebte und vor der Kamera öffentlich bezeugte Leid entfalte schon für sich genommen eine kathartische Wirkung. Viele der Interviews finden an den damaligen Originalschauplätzen statt. Dabei gleitet die Regie in der Beförderung authentisch wiederbelebter Gefühlslagen selbst ein wenig ins Inquisitorische ab: Als die ansonsten resolut auftretende Franziska Kriebisch bei der Erinnerung an die Verhaftung ihrer Eltern ins Stocken gerät, hält die Kamera weiter auf ihr Gesicht und die unsichtbare Interviewerin hilft ein bisschen nach: „Was war da so schlimm an dem Punkt?“ – „Dass ich allein war“, antwortet die Befragte. JAN-HENDRIK WULF