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: Das Dunkle fällt auf den Walk of Fame

Cristina Nord ist in Venedig und beobachtet, wie im neuen Film von David Lynch die Sequenzen rätselhafter flattern denn je

Gestern Abend hat David Lynch in der Sala Grande den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk entgegengenommen. „Inland Empire“, sein erster abendfüllender Spielfilm seit „Mulholland Drive“ (2001), variiert die Motive und Sujets, die aus diesem reichen Werk vertraut sind: die Gewalt, die weniger Bedrohung von außen ist, als dass sie von innen kommt, die Traumlogik mit ihren Doppelgängern und gespaltenen Identitäten, die charakteristische Mischung aus Mystery und Kitsch, dazu den Umgang mit dem Unheimlichen, der weit über herkömmliche Horrorfilme hinausgeht.

Sigmund Freud schrieb bekanntlich, das Unheimlich wohne nicht in der Fremde, sondern im Vertrauten. Lynch hat sich dies zu Herzen genommen. Kaum ein Regisseur verfolgt so obsessiv wie er die Spuren der Monster, die im eigenen Heim wohnen. Dass er von diesen Monstern mittlerweile nicht mehr nur in Filmen erzählt, sondern sie mit der pseudoreligiös-esoterischen Foundation for Consciousness-Based Education and World Peace bekämpft, muss man ihm wohl als persönlichen Eskapismus nachsehen.

„Inland Empire“ wirkt zunächst wie eine Fortsetzung von „Lost Highway“ (1997) und „Mulholland Drive“, nur mit bescheideneren Mitteln (gedreht wurde auf Digitalvideo) und noch mehr rätselhaft flatternden Sequenzen (es gab kein Drehbuch).

Was der Film als Traum setzt, was als Film im Film und was als seine Realitätsebene, ist nach etwa einer halben Stunde nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Bis dahin erzählt „Inland Empire“ die Geschichte einer Schauspielerin namens Nikki (Laura Dern). Sie dreht einen Film, in dem die von ihr gespielte Figur einen Ehebruch begeht. Ihr echter Ehemann fürchtet, sie werde ein Verhältnis mit dem Hauptdarsteller Devon (Justin Theroux) anfangen.

Über dem Dreh liegt ein weiteres dunkles Vorzeichen: Schon einmal wurde der Versuch unternommen, das Skript zu verfilmen, doch die beiden Hauptdarsteller – „polnische Zigeuner“ nennt sie der Regisseur (Jeremy Irons) – fielen damals einem mysteriösen Verbrechen zum Opfer. Bis hierhin ist „Inland Empire“ nachvollziehbar, alles weitere fällt der Logik des Traums anheim.

Lynchs liebster Traumraum ist der Flur. Oft gehen die Figuren durch Gänge, der Dunkelheit entgegen. So entsteht ein Irrgarten, der umso mehr verwirrt, als auch eine Kinoleinwand oder ein Fernsehbildschirm Pforten zu unbekanntem Terrain sein können. Eine Schuss-Gegenschuss-Sequenz etwa ist so organisiert, dass Laura Dern sich selbst gegenüber steht: einmal als Close-up auf einem Monitor, einmal als Close-up auf der Realitätsebene des Films. Manchmal öffnet sich ein Bildschirm zu einer Guckkastenbühne, die von Menschen in Hasenkostümen bewohnt wird. „Ich habe ein Geheimnis“, sagt der Hasensohn, derweil die Hasenmutter am Bügelbrett steht. Wenn Laura Dern über einen Straßenstrich in Hollywood strauchelt, braucht es nicht mehr als einen Schnitt, und sie befindet sich auf einem Straßenstrich in einer osteuropäischen Stadt, um 40 Jahre in der Zeit zurückversetzt.

Pikanterweise geht der Strich in Hollywood in den Walk of Fame über. Kurz sieht es aus, als machte Laura Dern an einem Stern halt, auf dem der Name Dorothy Vallens – die von Isabella Rossellini gespielte Hauptfigur aus „Blue Velvet“ – steht. Das Dunkel von „Inland Empire“ lichtet sich hier für einen Augenblick: Wenn Hollywoods Unterhaltungsindustrie helle Träume in Szene zu setzen bemüht ist, so erforscht Lynch, was dabei an Dunkelheit anfällt – an Gier, Gewalt und Ausbeutung. „Inland Empire“ fängt an, wo Hollywood die Sichtbarkeit verweigert. Aus dem Film fällt das Dunkle zurück auf den Walk of Fame – und tief in unsere Träume hinein.

CRISTINA NORD