Der Wahlkampf bricht aus

Erneut ist ein Häftling ausgebüxt. CDU und FDP eilen lärmend hinterher und fordern den Rücktritt der SPD-Justizsenatorin. Dabei entkamen die meisten Gefangenen unter ihrem CDU-Vorgänger

von FELIX LEE
und PLUTONIA PLARRE

Erneut ist einem Häftling die Flucht aus dem Kriminalgericht Moabit gelungen. Doch vor allem ist anderthalb Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl nun auch in der Justizpolitik der Wahlkampf ausgebrochen. Am weitesten lehnt sich CDU-Spitzenkandidat Friedbert Pflüger aus dem Fenster. „Jetzt reicht es“, sagte Pflüger gestern. So wie auch schon die FDP forderte er Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) auf, zurückzutreten. Berlin würde sich ja in „Deutschland lächerlich machen“.

Während einer Verhandlungspause hatte am Dienstag der 44-jährige Angeklagte Martin R. einen Gerichtswachtmeister überwältigt und war aus dem Gericht geflohen. Der Häftling hatte in der Mittagspause den Justizangestellten mit einer Scherbe bedroht, ihn gefesselt und in eine Vorführzelle gesperrt. Erst nach einer Dreiviertelstunde konnte sich der Angestellte befreien und Alarm auslösen. Bis gestern fehlte von dem Häftling jede Spur. Es ist bereits die zweite Flucht eines Angeklagten aus dem Gebäude in der Turmstraße. Ein 28-Jähriger war am 1. August vermutlich durch ein Toilettenfenster geflohen. Auch er konnte bisher nicht gefasst werden. Fünf Fluchten gab es in diesem Jahr bereits.

Und dennoch ist Pflügers Rücktrittsforderung absurd. Zum einen gab es unter dem CDU-geführten Diepgen-Senat allein 1996 mit acht Ausbrüchen mehr als in der gesamten Legislaturperiode von Rot-Rot. Zum anderen ist für die Sicherheitsvorkehrungen im Gerichtssaal der Vorsitzende Richter zuständig und nicht die Justizsenatorin. Und dieser hatte bei dem seit über einem Jahr andauernden Prozess zunächst durchaus höchste Sicherheitsvorkehrungen angeordnet.

Musste Martin R. anfangs noch in Handschellen den Gerichtssaal betreten, zeigte der Angeklagte im weiteren Verlauf jedoch körperliche Schwächen. Er wirkte zunehmend apathisch und sah abgemagert und völlig verwahrlost aus. Auch sprach er kein Wort mehr. Regelmäßig musste er im Rollstuhl in den Prozesssaal gefahren werden. Ob seine Schwächen nur gespielt waren, wird sich nur schwer herausfinden lassen. Beobachter bescheinigen ihm Raffinesse, er gehe mit unüblichen Methoden vor. Ungewöhnlich war zum Beispiel, dass bei seiner Festnahme Millionen Euro in bar gefunden wurden, während die anderen Mittäter ihr Geld längst auf ausländische Konten geschoben haben. Ein Insider geht davon aus, dass er auf den Weg nach Brasilien ist, wo ihm gute Kontakte nachgesagt werden.

Martin R. ist der letzte von insgesamt 14 Angeklagten, der noch nicht verurteilt wurde. Der Prozess wird ihm wegen betrügerischer Immobiliengeschäfte und gefälschter TÜV-Bescheinigungen mit einem Gesamtschaden von 2,8 Millionen Euro gemacht. Als Hauptbeschuldigter drohen dem 44-Jährigen mehr als zehn Jahre Gefängnis.

Wenn es Grund zur Kritik an Justizsenatorin Schubert gibt, dann an den miserablen Haftbedingungen (siehe Text unten). Denn die Gefängnisse sind seit Jahren überfüllt. Laut Angaben der Justizverwaltung sind derzeit über 150 Strafgefangene oder mutmaßliche Täter mehr hinter Gitter, als es die Kapazität von 5.121 Plätzen zulässt. Erschreckend ist auch die Zahl der Todesfälle. Die strebt mit bisher 16 verstorbenen Insassen – wovon die Hälfte Selbstmord begangen hat – in diesem Jahr einem traurigen Spitzenwert zu.

Dies anzuprangern widerstrebt CDU-Spitzenkandidat Pflüger jedoch qua Programm. Seine Partei fordert eine Verschärfung des Strafrechts – was wiederum heißt: noch mehr Häftlinge.