„Jeder braucht illegale Hilfe“

INTERVIEW CHRISTIAN RATH

taz: Herr Burkhardt, am letzten Wochenende sind 1.200 Afrikaner mit wackligen Booten auf den Kanarischen Inseln gelandet. Sind das nun Flüchtlinge? Oder Glückssucher, die ein besseres Leben in Europa wollen?

Günter Burkhardt: Wenn die Medien pauschal von Wirtschafts- oder Elendsflüchtlingen sprechen, blenden sie aus, dass darunter auch Menschen sind, die vor Verfolgung oder kriegerischen Auseinandersetzungen fliehen. Immerhin gab es in rund der Hälfte der afrikanischen Staaten in den letzten Jahren Kriege oder Bürgerkriege.

Viele der gestrandeten Afrikaner haben in ihren Heimatländern eine berufliche Existenz aufgegeben, etwa als Friseur oder Lagerarbeiter. Sie suchen nicht Schutz, sondern neue Perspektiven …

Wo Unterdrückung und Verelendung Hand in Hand gehen, wandern auch Menschen aus, die nicht persönlich verfolgt werden. Das zeigt schon ein Blick in die deutsche Geschichte nach 1848.

Kommt es für Sie darauf an, ob die, die auf den Kanaren oder auf Lampedusa ankommen, konkret vor Krieg und Verfolgung geflüchtet sind?

Natürlich. Vermutlich haben zehn bis dreißig Prozent dieser Menschen ein persönliches Verfolgungsschicksal – etwa Flüchtlinge, die aus Eritrea oder dem Sudan kommen. Sie haben Anspruch auf ein ordentliches Asylverfahren, in dem ihre Fluchtgründe geprüft werden. Dafür setzen wir uns ein.

Am gefährlichsten ist die Flucht. Mehrere hundert Menschen starben dieses Jahr bereits bei der Fahrt über das Meer. Sollte man Flüchtlinge davon abhalten?

Wie denn? Die Abschottungspolitik der EU, die sich mit Patrouillenbooten und Zäunen die Flüchtlinge vom Leib halten will, führt doch gerade dazu, dass die Menschen immer gefährlichere Routen wählen müssen.

Was also ist die Alternative? Plädieren Sie für einen sicheren Fährenservice der EU?

Das ist eine unrealistische Forderung. Die EU sollte legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen und sich um die Ursachen von Migration und Flucht kümmern. Sie schottet ihre Märkte ab und lässt viel zu wenig afrikanische Waren nach Europa. Ihre aggressive Fischereipolitik vernichtet viele Existenzen in Afrika, weil Fanggründe industriell leergefischt werden.

Eine andere EU-Politik gegenüber Afrika könnte höchstens mittelfristig wirken. Was aber soll mit den Menschen passieren, die jetzt in West- und Nordafrika am Strand stehen?

Dafür haben wir auch keine kurzfristig greifende Lösung. Wir können nur darauf hinweisen, dass auch Migranten, die keine Flüchtlinge sind, Rechte haben. Es ist menschenrechtswidrig, auf sie zu schießen oder sie in der Wüste auszusetzen.

Wie sieht es mit dem Schutz in Deutschland aus? Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im letzten Jahr nur 6,6 Prozent der Asylsuchenden anerkannt oder ihnen Abschiebeschutz gewährt.

Dazu kommen noch mal einige Prozent, die später erst vor Gericht erstritten wurden. Aber kein Zweifel, die Anerkennungsquoten sind sehr niedrig. Das liegt aber vor allem an mangelhaft durchgeführten Asylverfahren, bei denen die Fluchtgründe nicht wirklich ermittelt werden.

Warum?

Das Asylverfahren ist mit sachfremden Ermittlungen belastet: Wie verlief der Reiseweg des Flüchtlings? Kam er durch einen sicheren Drittstaat? Kann das Asylverfahren eventuell in einem anderen Land durchgeführt werden? Die individuelle Verfolgungsgeschichte interessiert manche Anhörer nur am Rand und wird mit vorgefertigten Textbausteinen abgehandelt. Oft entscheiden sogar Beamte über die Fälle, die die Flüchtlinge nicht einmal selbst angehört haben.

Es gibt ja noch die Möglichkeit, gegen einen ablehnenden Asylbescheid zu klagen …

Wenn sich dann aber ein Anwalt die Mühe macht, die Fluchtgründe ausführlich darzustellen, verweist das Gericht oft auf die dürren Angaben aus der Anhörung und spricht von „nachträglich gesteigertem Vorbringen“. Folge: Die Darstellung wird als unglaubwürdig abgelehnt. Das Verfahren ist davon geprägt, Gründe zu suchen, warum man einen Menschen nicht aufnehmen muss.

Wie hoch wäre die Anerkennungsquote wohl, wenn Pro Asyl über die Anträge entscheiden würde?

Es wäre unseriös, hier eine Zahl zu nennen. Aber viele Asylsuchende kommen aus Krisenregionen, bei denen die Fluchtursachen auf der Hand liegen. Tschetschenen, Kurden aus der Türkei, Minderheiten aus dem Kosovo.

Kann man als Flüchtling ohne Schleuser nach Deutschland kommen und Asyl beantragen?

Nein, fast jeder Flüchtling muss illegale Dienstleistungen wie einen gefälschten Pass, ein gefälschtes Visum oder Hilfe beim illegalen Grenzübertritt nutzen, um überhaupt ein Asylverfahren in Europa zu bekommen. Die EU beklagt zwar das Schleuserwesen, schafft aber mit der Dublin-Konvention und der Dublin-II-Verordnung erst den Markt dafür.

Was besagen diese Rechtsakte?

Die wichtigste Regel lautet: Für einen Asylantrag ist derjenige Staat zuständig, durch den ein Flüchtling eingereist ist. Also machen die Staaten an den EU-Rändern ihre Grenzen möglichst dicht, weil sie sonst für alle folgenden Asylverfahren und ihre Kosten aufkommen müssten.

Befürwortet Pro Asyl die Arbeit von Schleusern?

Wir arbeiten nicht mit Schleusern zusammen, und politisch sehen wir sie sehr ambivalent. Oft wird die Notlage von Flüchtlingen schamlos ausgenutzt. Teilweise setzen Schleuser sogar das Leben der ihnen Anvertrauten aufs Spiel, zum Beispiel indem sie Menschen in untauglichen Booten aufs Meer schicken. Andererseits haben Flüchtlinge in bestimmten historischen Situationen keine andere Wahl, als Hilfe bei kriminellen Netzwerken einzukaufen.

Wie im Faschismus?

Genau. Auch das American Rescue Committee musste 1940 gefälschte Pässe im kriminellen Milieu von Marseille einkaufen, um deutschen Flüchtlingen in Südfrankreich weiterzuhelfen.

Wie viel Geld muss ein politisch Verfolgter heute bezahlen, um in Europa Asyl beantragen zu können?

Das hängt ganz vom Einzelfall ab. Aber es gibt Fluchtwege, da muss ein Flüchtling insgesamt mehr als 10.000 Euro aufwenden.

Die Reichen und Starken haben also deutlich mehr Chancen, in Europa Schutz zu finden, während arme und schwache Flüchtlinge in ihren Herkunftsregionen bleiben. Ist das individuelle Asylrecht noch zeitgemäß?

Natürlich. Es muss aber durch die kollektive Aufnahme größerer Flüchtlingsgruppen ergänzt werden. Der UN-Flüchtlingskommissar sucht händeringend Aufnahmeländer für anerkannte Flüchtlinge, die irgendwo in der Welt in Lagern auf eine neue Heimat warten.

Wie viele derartige Flüchtlinge sollte Deutschland aufnehmen?

Einige tausend pro Jahr wären wirklich angebracht. Die Zahl der Flüchtlinge, die individuell in Deutschland Asyl beantragt haben, ist in den letzten Jahren ja unter anderem wegen der europäischen Abschottungspolitik stark zurückgegangen. Bisher hat Deutschland nur die Aufnahme von jährlich 500 Flüchtlingen aus UN-Resettlement-Programmen zugesagt, und auch diese Zusage wurde in der Praxis nicht eingelöst.

Politischer Schwerpunkt von Pro Asyl war in den letzten Jahren die Bleiberechtskampagne „Hier geblieben“. Dabei geht es aber nicht nur um Flüchtlinge?

Es geht um Menschen, die abgeschoben werden sollen, obwohl sie in Deutschland gut integriert sind. Warum diese Menschen einst nach Deutschland kamen, ist nicht mehr entscheidend. Viele der Betroffenen waren aber Flüchtlinge, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind.

Warum setzt sich Pro Asyl heute diesen Schwerpunkt? Ist das eine Folge der zurückgehenden Flüchtlingszahlen?

Nein. Obwohl die Zahl der Asylbewerber stark zurückgegangen ist, haben wir jetzt fast mehr zu tun als früher. Die Politik erfindet ständig neue Restriktionen, viele Beratungsstellen sind geschlossen worden. Die Bleiberechtskampagne entstand, weil viele Initiativen vor Ort sich um Menschen kümmern, die von Abschiebung bedroht sind. Pro Asyl fordert eine generelle politische Lösung.

Damit könnten Sie bald Erfolg haben. Selbst Innenminister Wolfgang Schäuble von der CDU hat sich jüngst für ein Bleiberecht von ausreisepflichtigen, aber schon seit langem geduldeten Ausländern ausgesprochen.

Dieses Signal haben wir mit Freude zur Kenntnis genommen, hoffen nun aber, dass Schäuble auch bei den CDU-Innenministern der Länder eine großzügige Regelung durchsetzen kann. Im Moment ist Schäuble allerdings auch dafür verantwortlich, dass die Zahl der Geduldeten noch steigen wird.

Wie das?

Das zu seinem Ressort gehörende Bundesamt für Migration und Asyl hat allein in den letzten drei Jahren rund 40.000 Asyl-Anerkennungen widerrufen. Ein großer Teil davon betrifft Menschen aus dem Irak, weil nach dem Sturz Saddam Husseins keine politische Verfolgung mehr drohe. Andererseits kann man Iraker nicht in den Terror zurückschicken, also bleiben sie mit einer Duldung in Deutschland. Ob Schäuble eher Teil des Problems oder seiner Lösung ist, werden die nächsten Monate zeigen.