lidokino
: Das Festival der vielen Geschwindigkeiten

Cristina Nord ist in Venedig, wo ein brutaler Gangsterfilm und ein spröder Filmessay die beiden Pole des Wettbewerbs bilden

Im diesjährigen Wettbewerb hat jede Form des Kinos ihren Platz: Spektakel aus Hongkong, Thriller aus den USA, true stories aus dem Buckingham Palace, spröde Kunst, gehobenes Arthouse-Kino, südostasiatische Reverien.

Den äußersten Pol des Spektakels markiert Johnnie Tos Gangsterfilm „Fangzhu“ („Exiled“): Angesiedelt ist er in Macau kurz vor der Jahrtausendwende. Vier Mitglieder einer Triade suchen ein fünftes Mitglied, Wo (Nick Cheung). Wo hat versucht, den Boss der Triade zu erschießen. Zwei der vier haben den Auftrag, den Abtrünnigen zu töten, zwei wollen ihn schützen.

Wer dachte, alle Arten zu kennen, wie sich im Kino Schießereien inszenieren lassen, wird in „Fangzhu“ staunen. To arrangiert seine Figuren und deren Pistolen in komplexen Pattsituationen. Selten zielen zwei Figuren direkt aufeinander, meistens begegnen sich fünf, sechs, sieben Gangster in einem System fragiler Balance: Tai zielt auf Blaze, Blaze auf Wo, Wo auf Fat, Fat auf Cat und Cat auf Tai. To setzt diese Arrangements mit großem Aufwand in Szene, bis der Schuss fällt, der das Gleichgewicht zunichte macht und die Aktion entfesselt – die Choreografie der fliegenden Mäntel, der aus den Angeln springenden Türen, der wehenden Vorhänge, der Blutfontänen, die wie ein feiner roter Schleier ins Bild gesprüht sind.

So sehr der Regisseur aus Hong Kong dem Genre des heroic bloodshed zuneigt, so weiß er doch auch, wie gut sich ein wenig comic relief macht. Nachdem die Gangster die Wohnung Wos verwüstet haben, bauen sie sie im Team wieder auf, sägen an Brettern, rühren Mörtel, stopfen die Löcher in Türen und Wänden. Um von der Zerstörung zum Wiederaufbau zu gelangen, reichen To wenige Szenen. Doch andersherum geht es genauso schnell. Wo hat einen Bauchschuss und wird verarztet. Die Kamera zeigt aus nächster Nähe die Pinzette, die in das Loch in Wos Bauch fährt und die Kugel herausholt, und auch die Nadel, die die Wunde zunäht, ist im Close-up zu sehen. Fast ist die Wunde geschlossen, fast ist Wos Körper wieder intakt, da kommt es zu einem furiosen Schusswechsel. Der eben mit Mühe wiederhergestellte Körper wird doppelt malträtiert.

Wenn Johnnie To den einen Extrempunkt dessen markiert, was in diesen Wettbewerb passt, dann gehört der andere Pol den französischen, in Rom lebenden Filmemachern Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Ihr neuer Film „Quei loro incontri“ („Diese Begegnungen mit ihnen“) ist spröde; ihn im Wettbewerb zu präsentieren ein wagemutiger Akt, Ausdruck der Hochachtung für die Vielfalt des Kinos. „Quei loro incontri“ knüpft an, wo „Dalla nube alla resistenza“ („Von der Wolke zum Widerstand“) aus dem Jahr 1979 sich bewegte. Straub und Huillet verwendeten damals Texte von Cesare Pavese (1908 – 1950), um zu erforschen, wie der Mythos in der Gegenwart fortwirkt – dies aber nicht in einem dunklen, raunenden Sinne. Im Gegenteil behandeln Straub und Huillet den Mythos als einen Grundtext, mit dessen Hilfe sich die Dialektik von Herrschaft, Unterwerfung, feststehenden und veränderbaren Verhältnissen explorieren lässt.

Auch „Quei loro incontri“ greift auf Texte von Pavese zurück; auch diesmal sind es Dialoge von Figuren aus der griechischen Mythologie – Reflexionen über die Sterblichen, über deren Verhältnis zum Tod, zur Schönheit und zu den Göttern. Der Film wurde mit Laiendarstellern gedreht; er besteht aus fünf Sequenzen, die jeweils recht statisch gefilmt sind – lange Einstellungen, wenige, dafür umso präzisere Schnitte, jeweils zwei Figuren, die in einem Hain, an einem Bach, auf Felsen oder vor von Efeu überwucherten Wänden stehen. Nur am Ende bewegt sich die Kamera, vom Bach und der Wiese fährt sie nach oben, erfasst eine Mauer, dahinter ein Dorf, darüber einen Hügel: Ist das der Ort, wo die Götter wohnen? Oder doch nur eine Anhebung, auf deren Gipfel Sendemasten und eine Stromleitung vom Einbruch der Gegenwart künden?

CRISTINA NORD