berliner szenen Aufregend leben

Nirgends eine Beute

Helmut stellt sein Fahrrad unter eine Linde. In Berlin stellen junge Menschen Fahrräder unter Linden, um sich in Kneipen zu betanken, während andere junge Menschen ihnen die Fahrräder klauen. Helmut ist Schweizer und in einem Dorf mit Namen Hasle-Rüeggsau aufgewachsen. Helmütu, wie man ihn zu Hause nennt, hat den Sprung nach Bern geschafft. In Bern wollen viele junge und jung gebliebene Menschen nach Berlin. Das will Helmut jetzt auch. Er hat einen konkreten Plan: In Prenzlauer Berg wohnen und Fotograf werden. Helmut weiß, aller Anfang ist schwer und Berlin ein hartes Pflaster, but if you can make it there, you make it anywhere.

Jetzt lebt Helmut im Prenzelberg, wo junge Deutsche ihre Sprösslinge durch die sanft renovierte Gegend schaukeln. Besitzer von Keramikläden oder Designershops polieren hier ab und an ihre Schaufensterscheiben, während Bäume auf den Gehsteigen Wurzeln schlagen. In Pankow schlafen Rentnerinnen in Tüten auf Treppenstufen. Helmut ist verstört. Wo sind die sich auflösenden Künstlersubjekte, die KonzeptkünstlerInnen, WebdesignerInnen, die PopliteratInnen und DokumentarfilmemacherInnen? Wo sind die weißhäutigen, magersüchtigen Frauen, die für Helmut in Betonröhren posieren sollen? Wo ist die Avantgarde der kreativen Multitasker? Wo der Moloch, der melting pot, die „Stadt als Beute“? Wo ist die postmoderne Einöde westlicher Urbanität? Im Urlaub? In Kreuzberg? Oder gar schon in Neukölln?, fragt sich Helmut. Er muss sie finden. Das erfordert Zeit. Er wird sie morgen suchen. Erst einmal setzt sich der erschöpfte Schweizer in eine der vielen Kneipen und trinkt ein Bier, das Fahrrad immer im Blick.

ARIANE VON GRAFFENRIED