Unterschätzen wir den Islamismus?

Der Westen fühlt sich wieder bedroht. Aber ist er es so sehr, dass man von Appeasement reden muss wie in den 30er-Jahren? Eine Kontroverse
VON CLAUS LEGGEWIE

JA

Man habe eine größere Chance, unter ein Auto als bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen, heißt eine Binsenweisheit angesichts der Bedrohung, der westliche Gesellschaften nicht erst, aber sichtbarer seit September 2001 ausgesetzt sind. Der neunmalkluge Satz überspielt, wie dem Westen in Gestalt des radikalen Islamismus ein echter und auch zunehmend mächtiger Feind erwachsen ist, und die bisherige Bekämpfung hat das Übel vergrößert, indem sie Wertgrundlagen dieser Gesellschaften aushöhlt.

Dieses Wechselspiel von Abwiegelung und Selbstaufgabe ist fatal. Appeasement steht in den internationalen Beziehungen für die Beschwichtigung von Staaten mit eindeutig aggressiven Absichten; der klassische Fall war die entgegenkommende, von Sympathie und Identifikation unterfütterte Haltung Großbritanniens zum Dritten Reich, die mit dem Münchner Abkommen von 1938 nicht „Frieden in unserer Zeit“ brachte, wie Chamberlain hoffte.

Einen Feind der Größenordnung Hitlerdeutschlands vermögen viele heute nicht zu erkennen. Das ist nicht allein der Globalisierung zuzuschreiben, mit der territoriale Konflikte (1938 war es die Abtretung des Sudentenlands) in transnationale Parakriege übergingen, bei denen staatliche Akteure zurücktreten. Am ehesten anwendbar ist die München-Analogie auf den Iran, dessen Präsident Amerika als Satan bezeichnet, ein „Krebsgeschwür“ namens Israel von der Weltkarte beseitigen will und den Besitz von Kernwaffen ansteuert. Gerade wenn es eine iranische Atombombe nach Expertenurteil erst in fünf bis zehn Jahren geben wird, müsste man Iran – mit kluger Diplomatie, die ohne reale Drohung nicht auskommt – in die Schranken weisen.

Am Beispiel Iran kann man erkennen, wo Mäßigung nicht immer auf einer rationalen Gefahreneinschätzung beruht, sondern auf neuerliche Einfühlung in den Aggressor hinausläuft, die seine Ziele verkennt und seine Anliegen – etwa den Besitz der Bombe – in Teilen rechtfertigt. Ein Gegner der einzig verbliebenen Supermacht genießt bei vielen einen Opferbonus. Und während sich die Regale bogen unter Anklagen von Amerikas finsteren Machenschaften, machte sich kaum jemand ernsthaft Mühe, die Fatwas und Videobotschaften eines Bin Laden oder seiner freien Mitarbeiter in europäischen Studentenwohnheimen zu studieren. Selbst als der angekündigte Angriff in New York, Madrid und London exekutiert wurde, war in merkwürdigen Übersprungshandlungen von der gestörten Psyche der Attentäter, vom friedlichen Islam und einer ungerechten Weltordnung die Rede – und natürlich vom Satan USA. Da bleibt ein Hugo Chávez ein Bündnispartner gegen das Empire, auch wenn er Diktatoren in Minsk und Damaskus seine Aufwartung macht.

In dieser Diskursanordnung bleibt die Zäsur von 9/11 unverstanden. Es war eine Folge bereits des Falls des Mauer, dass die politisch-kulturelle Einheit des Westens porös und der Atlantik breiter wurde. Aber seither wurde die Gelegenheit vertan, die freiheitliche Demokratie neu zu begründen – angesichts einer Gefahr, für die man nicht einmal einen Namen hat. „Islamofaschismus“ hat George W. Bush sie jüngst tituliert; mit diesem Rekurs schwört er die Öffentlichkeit auf ein Militärabenteuer ein, bei dem man nicht weiß, ob seine Fortführung oder Beendigung schlimmer wäre. Wie auch immer: Der westliche Mainstream drückt sich davor, einen Feind als solchen zu benennen und ihn an Kriterien wie Neofaschismus oder Totalitarismus zu messen.

Eine indolente Gesellschaft, die überholte Sicherheitsillusionen verteidigt, und ein hilfloser Staat, der solche mit patriotischen Akten, Luftangriffen und Hightechfantasien vortäuscht – das ist die wahre Erfolgsbilanz des Terrors in den letzten fünf Jahren. Sicherheit als Schutz vor einem Anschlag, da haben die Innenminister recht, kann niemand garantieren. Sicherheit in einem übertragenen Sinne, die dem Terror nicht seine gezielte Gewalt, wohl aber seinen flächendeckenden Schrecken nimmt, bietet allein die gelassene Reaktion einer abgeklärten Bürgerschaft. Und dazu bedarf es einer wehrhaften Demokratie. Der Begriff ist im „Kampf gegen rechts“ und für allerhand symbolisches Pathos fast unbrauchbar geworden, aber er stammt von deutschen Emigranten, die genau wussten, dass die Weimarer Republik nicht an der ökonomischen Krise zugrunde gegangen ist, sondern weil es ihr an Demokraten mangelte, die ein klares Bewusstsein von ihren Feinden und dem Wert ihrer Lebensform besaßen

Nein
VON STEFAN REINECKE

Wer von Appeasement gegenüber islamistischer Gewalt redet, will dramatisieren. So wie der Westen in den 30ern die Nazis unterschätzte, so sollen wir Deutsche derzeit den islamistischen Totalitarismus unterschätzen. Das ist gemeint, wenn von Appeasement die Rede ist.

Und es gibt in der Tat Ähnlichkeiten zwischen radikalen Islamisten und Faschisten. Beide hassen die liberale Kultur, verachten Frauen und huldigen einem Todeskult. Doch was ähnlich aussieht, ist nicht das Gleiche.

Die faschistischen Achsenmächte waren in den 40ern hochgerüstete Industriestaaten, die in einem rassistischen Aggressionskrieg die Weltherrschaft erobern wollten. Der radikale Islamismus hat einen anderen Charakter. Nur im Iran (dessen Bruttosozialprodukt halb so groß ist wie das Mexikos) hat er stabil die Staatsmacht erobert. Die iranische Regierung will sich in der Tat Atomwaffen beschaffen. Das gilt es zu verhindern – aber nicht, indem man mit Appeasement-Schlagworten suggeriert, Krieg sei die einzige Lösung.

Ansonsten hat der radikale Islamismus, von Algerien bis nach Pakistan, bislang sein Ziel, die Staatsmacht zu erobern, verfehlt. Der islamistische Terror war ein Produkt dieses Scheiterns. Wer nach historischen Vergleichen sucht, sollte eher den Linksterror der 70er-Jahre ins Auge fassen. Auch damals gab es endzeitlich gestimmte Gruppen, die Spaltprodukte einer internationalen Bewegung waren.

Die Alarmworte „Faschismus“ und „Appeasement“ dienen jedenfalls weniger der Aufklärung als der inneren Mobilmachung der Bürger. Man kennt dieses Spiel. Und es wäre Zeit, den Faschismusvergleich ersatzlos zu streichen. Hitler hatte, von Saddam über Milošević, schon zu viele Wiedergänger.

Und: Wer von Appeasement redet, stützt die aktuelle Rhetorik von Bush und Rumsfeld. Je blutiger das von den USA angerichtete Desaster im Irak wird, desto bissiger verklären sie den „Krieg gegen den Terror“ zum antifaschistischen Heldenkampf. Dabei war der Traum der Neokonservativen, in Bagdad so wie in Paris 1944, als Befreier einzuziehen, schon 2003 ein schlechter Witz. Der „Krieg gegen den Terror“, den die USA führen, ist die Krankheit, die er zu kurieren glaubt. „Appeasement“ und „Islamofaschismus“ sind rhetorischen Nebelkerzen, die den Blick auf die niederschmetternde Bilanz des Antiterrorkrieges trüben sollen.

In Deutschland gibt es für diesen Agitprop keinen richtigen Resonanzboden. Als kürzlich nach den Kofferbombern gefahndet wurde und Magazine faktenlose Texte mit Titeln wie „Deutschland im Griff des Terrors“ versahen, machte ein Institut eine Umfrage. Das Ergebnis: Zwei Drittel fühlen sich vom islamistischen Terror nicht bedroht.

Das ist eine angemessene, ja kluge Haltung. Zum einen ist es viel wahrscheinlicher, beim Baden oder Putzen zu Tode zu kommen, als bei einem Terroranschlag. Zudem nutzt es nicht viel, Angst vor etwas zu haben, was man, trotz aller Antiterrordateien, nie ausschließen kann.

Die Deutschen sind, zum Leidwesen bellizistischer Leitartikler, kriegerisch unmusikalisch geworden. Offenbar hat der Schrecken des 20. Jahrhunderts eine segensreiche, generationenübergreifende Prägekraft. Die Deutschen taugen nicht für Kulturkämpfe. Auf den Terror reagieren sie indifferent. Auch als Islamisten in Djerba deutsche Touristen töteten, zuckte die hiesige Öffentlichkeit mit den Schultern. Sie fühlte sich nicht gemeint.

Diese Dickfelligkeit hat einen naheliegenden Grund: Man will seine Ruhe haben. Das ist zugleich eine klügere Haltung als alles kulturkämpferische Säbelrasseln. Es ist die Weigerung, den islamistischen Terrorismus als Feind anzuerkennen. Wen ich als Feind akzeptiere, dem messe ich Bedeutung zu. Und oft ist der Feind das Andere, das mit unserem Selbstbild verknüpft ist.

Bei politischem Terror ist es durchaus eine Frage wert, was klüger ist: den Terroristen als Feind zu akzeptieren oder ihn, so gut es geht, zu ignorieren. Der RAF-Terror hat 28 Jahre gedauert. Wenn Staat und Gesellschaft sich von der RAF weniger gemeint gefühlt hätten – dann wäre ein früheres Ende möglich gewesen.

Die Gefahr ist nicht, dass wir den radikalen Islamismus unterschätzen. Gefährlich ist der „Islamofaschismus“-Agitprop, der uns einreden will, dass ein paar tausend durchgeknallte islamistische Jungmänner zentrales Problem des 21. Jahrhunderts wären.