Im Chaos der Bilder

Oliver Stones „WTC“ versucht den 9/11-Bildern ihre Reinheit wiederzugeben

VON GEORG SEESSLEN

Die Bilder des 11. September 2001 haben in den letzten fünf Jahren Konkurrenz bekommen – unter anderem durch die Bilder, die der „Krieg gegen den Terror“ hervorgebracht hat. Auch deshalb ist es heute Zeit, ein neues gültiges filmisches Gedenkbild zu finden. Ein Bild, das den 11. September 2001 reinigt – etwa von den schmutzigen Bildern von Abu Ghraib, die sich über das Katastrophenbild der Twin Towers geschoben hatten. Oder von der berechtigten Anklage gegen eine Regierung, die Bilder fälschte, um einen Krieg zu rechtfertigen. Oder von der Frivolität, mit der sich die populäre Kultur, die Propaganda, aber auch die Dissidenz der 9/11-Bilder bemächtigt hat.

Dieses filmische Denkmal muss eine Reinheit haben. Diese Reinheit schafft man, indem man die Frage nach der politischen Schuld oder Unschuld ausblendet und sich ganz auf die Opfer konzentriert.

So ist es in den beiden wichtigsten Gedenkfilmen, in Paul Greengrass' „United 93“ und Oliver Stones „World Trade Center“. Der Staat ist in beiden Filmen fast völlig abwesend – alle Konzentration gilt dem Subjekt, das dem Bild des terroristischen Anschlags seine Unschuld zurückgibt und es scheinbar von allen ideologischen Ableitungen reinigt.

„United 93“ galt als erster „authentischer“ 9/11-Spielfilm. Er rekonstruiert den Versuch der Passagiere des vierten entführten Flugzeuges, die Terroristen zu überwältigen, und den Absturz der Maschine. Die Reaktion auf „United 93“ war heftiger als erwartet: Schon die Trailer des Films sorgten für Aufregung, Kinos setzten den Film ab, nachdem Zuschauer emotional zusammengebrochen waren. Andere weigerten sich, einen Film ins Programm zu nehmen, der zwar das kollektive Heldentum der Passagiere beschreibt, aber keinen Ausweg, kein noch so indirektes Happy End, keine nationale Geste zu bieten hat.

Stattdessen war dieser Film in einem Stil der „Gegenwärtigkeit“ gedreht. Das reale (oder wenigstens auf solche Weise denkbare) Ereignis wird in eine fiktive Form übertragen, die aber dann wieder mit eher dokumentarischen Mitteln wiedergegeben wird. Fiktion und Dokument verschleifen sich ineinander. Die Wahrheit, die diese Bilder versprechen, ist die des subjektiven Empfindens: Wir waren, sozusagen, dabei.

Regisseur Greengrass machte wohl alles richtig – durch Weglassen: kein Pathos, keine Filmschurken als Terroristen, keine Stars. So führt er das Bild eines Anschlags auf seinen menschlichen Gehalt zurück. Aber das erwartete und geplante filmische Versöhnungswerk konnte das nicht sein. Es war noch einmal: ein Nullpunkt. Das Subjekt, das in der Geschichte nicht daheim sein kann.

Für das „nationale Versöhnungswerk“ dagegen war Oliver Stone ausersehen, der einerseits den Ruf hatte, amerikanische Legenden mit einem kontroversen Blick zu sehen, andererseits aber mit „Platoon“ genau den Film gedreht hatte, der die Nation mit dem Vietnamkrieg versöhnte. So war es, sagten die Veteranen über „Platoon“. So war es, sagten auch die, die gegen den Krieg demonstriert hatten. „Platoon“ war ein filmischer Gedenkstein, auf dem dieses „So war es“ gemeißelt war.

Genau so etwas sollte Stone auch für 9/11 liefern, einen heftigen, aber unpolitischen Film. Einen Film, der zugleich Tränen und Gleichgültigkeit erzeugt.

Auch Stone benutzt das Modell einer „Subjekt-Katastrophe“ in seiner nach authentischen Fällen modellierten Geschichte von den zwei Polizisten, die beim Einsatz im WTC verschüttet werden und nach langen quälenden Stunden von Helfern gerettet werden. Wo bei Greengrass das vom Terror gepeinigte Subjekt vom Außen abgeschnitten und ganz auf sich selbst zurückgeworfen handelt (und gerade so in einen kollektiven Helden verwandelt wird), konstruiert Stone eine doppelte Heilsbeziehung zwischen Innen und Außen. Die verschütteten Menschen glauben an das Draußen, an ihre Familien, an ihre Freunde, ganz allgemein an ihre Mitmenschen. Daher nehmen sie die Kraft, gegen den Schlaf und den Tod anzukämpfen. Umgekehrt wird das Außen, dieses bescheidene, gläubige Amerika, erlöst durch die Rettung der beiden verschütteten Polizisten.

Kitsch und Versöhnung

In den Szenen, die die Todesnähe schildern, erreicht Stone sein „So ist es“. Wie sollte man mit Menschen in solchen Schmerzen und solcher Angst nicht Mitleid empfinden? Alles, was gefaselt wird an Erklärungen und Bildphilosophie, verschwindet in solchem Augenblick: Terror, das ist nichts anderes als die Produktion von menschlichem Leid.

So wird die Reinheit des Bildes gerettet: der leidende Mensch, der nichts rechtfertigt, nichts erklärt, nichts bewirkt. Um diese Reinheit zu erzeugen, nahm Stone eine bemerkenswerte Trennung vor: „Natürlich gibt es eine kollektive Erinnerung an den 11. September 2001. Aber es gibt auch die Erinnerung und die Wahrheit dieser einzelnen Männer“, verkündete der Regisseur ebenso mantrahaft wie die Beteuerung, einen „unpolitischen Film“ zu schaffen.

Die kollektive Erinnerung und die Wahrheit des Einzelnen verhalten sich also widersprüchlich zueinander. Sie müssen versöhnt werden, und das macht Stone ganz direkt, indem er von den Realaufnahmen der Katastrophe zum fiktiven (aber „authentischen“) Drama schneidet und dieses wiederum in der Gegenwärtigkeitsform des Dokumentarischen ausstellt.

Wir erleben das Äußere der großen Bilderschleife vom 11. September buchstäblich von innen, der Zusammenbruch des Turms ist da aller Schauspielhaftigkeit entkleidet, es ist sinnlich erlebte Zerstörung. Schmerz.

Da draußen aber sehen wir leidende Familien wie von Norman Rockwell gemalt, durchglüht von einem inneren Licht, das alle Widersprüche überstrahlt, und stabilisiert von einer Ordnung, die „patriarchalisch“ zu nennen noch untertrieben wäre. „World Trade Center“ entwirft ein ideales Amerika des unteren Mittelstands, eine bigotte und sentimentale Spießerwelt. Natürlich ist dieses Loblied auf den kleinen Mann (und seine noch kleinere Frau) ein politisches Statement, ebenso wie die Betonung der multikulturellen Zusammensetzung von Polizei und Feuerwehr. Alle wollen auf eine fast schon kindliche Weise gute Amerikaner sein, und der Latino-Kollege (Michael Pena) von Cages Polizisten ist sogar so eifrig in seinem Job, dass er auf seinen freien Tag verzichtet und sich als Freiwilliger meldet, als es zum Einsatz im Turm geht. Wie damals in Vietnam geraten auch hier gerade die besten Amerikaner ins Fegefeuer, die eigentlich viel zu geradlinig, viel zu kindlich sind, um das unübersichtliche Geschehen zu begreifen.

Anders als bei Greengrass hat das „gewöhnliche Heldentum“ bei Stone nichts mit Entscheidungen zu tun. Es besteht vielmehr in einer offensichtlich natürlichen Bereitschaft zu Hilfe, Beistand und Mitleid. Es ist die Innenwelt des amerikanischen Populismus, der immer wieder die Wärme der nachbarschaftlichen Subjekte gegen Staat und System und Krise und Krieg in Schutz nimmt. Und hier wird buchstäblich bis aufs Skelett reduziert: Die Welt ist so weit, wie man sehen kann – selbst das Fernsehen ist schon Verrat an dieser Dimensionierung des Norman-Rockwell-Amerika, das nur aus Familie und Arbeit zusammengesetzt sein kann.

Die New York Times hat bereits einmal ein Rockwell-Bild zum Selbstverständnis recycelt: die Mutter, die sich zärtlich über die schlafenden Kinder beugt, während der Vater die Zeitung mit der schockierenden Nachricht in der Hand hält: „US Attacked!“ Das galt damals, 1941 – und das gilt nun nach 9/11. Rockwell zeigte ein Amerika, das äußerlich der Welt trotzte, innerlich aber unerschütterlich blieb. Und ebendies scheint Stone bei „World Trade Center“ ein wenig missglückt.

Die Zärtlichkeit des Blicks auf die Familie trifft auf keinen unverkennbaren Kern, die Menschen haben längst das Selbstverständliche aus den Bildern von Rockwell verloren. Sie müssen, wie in den Fernsehserien, erst endlos über Gefühle schwätzen, bevor sie sich einbilden könnten, sie hätten welche.

9/11 im Horrorfilm

Während der Mainstream um das richtige, gereinigte Gedenkbild zum 11. September ringt, geschieht im Untergrund der Bildermaschinerie das genaue Gegenteil. Das Terror-Bild stellt seine eigene Verschmutzung bis zum Exzess aus.

So ist es in der Welle von harten, nihilistischen Horrorfilmen, die man als Symptom des 9/11-Traumas werten kann. Die meisten dieser Filme – von „High Tension“ bis „Wolf Creek“ – wandeln ein bekanntes Motiv ab: junge Leute, die die Neugier an die falschen Orte treibt. An den Plots hat sich seit den 70ern, als das Horrorgenre den Vietnamkrieg spiegelte, wenig geändert. Die „Abu-Ghraibisierung“ des Kinos zeigt sich vielmehr in der ästhetischen Binnenstruktur.

In dem neuen harten Horrorfilm wird kein Terrorist für den Schrecken benötigt. Doch auffällig ist – und am deutlichsten in „Hostel“, wo US-Touristen auf Sex-Abenteuer in einem europäischen Grauen landen – das Motiv vollkommener Verständnislosigkeit gegenüber dem Fremden. Man ist, wo man nicht sein soll, das ist eine Ur-Situation, die sich mit dem Klima der Befremdung nach 9/11 verbindet.

Das ironische Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit der „Scream“-Filme ist aus dem Genre verschwunden. An seine Stelle ist, wie in „Hostel“, reiner Terror getreten. Und: Wenn man vor fünf Jahren noch ins Kino gehen konnte, um zu spüren, wie das ist, wenn man Menschen totschießt, so scheint man nun ins Kino zu gehen, um zu spüren, wie das ist, wenn man gefoltert wird. So verhalten sich die neuen Horrorfilme zu den Abu-Ghraib-Bildern nicht anders, als Katastrophenfilme sich zu den technologischen Risiken der Gesellschaft verhalten.

Der Terror- und Folterfilm freilich hat eine Tradition in den USA. 1974 drehten Roberta und Michael Findlay einen Film namens „Snuff“, der „inspiriert von den Manson-Morden“ eine Szenerie entwarf, zu deren grausigem Höhepunkt eine junge Frau angeblich wirklich ermordet wurde. Die Werbung zu diesem Film versprach: „Dieser Film konnte nur in Südamerika gedreht werden, wo ein Menschenleben nichts wert ist.“ Und damit war der Diskurs eröffnet, der sich in Filmen wie „Texas Chainsaw Massacre“ bis „Hostel“ fortsetzt: das Land finden, in dem das Menschenleben nichts wert ist.

Mit der Phantasie des „Snuff Movie“ verbanden sich in absurder Weise Dokumentation, Propaganda und düsteres Entertainment. In der Blütezeit der Horrorvideos zu Beginn der 80er-Jahre kursierte eine Reihe unter dem Titel „Gesichter des Todes“, in der Hinrichtungen, Folter, Unfälle und andere „spektakuläre“ Todesarten aneinandermontiert waren. Das ist unter anderem ein Vorläufer der direkten Bilderproduktion im Terrorkrieg, der gefilmten Enthauptungen, der Foltervideos und lustvoll kommentierten Home-Movies der Kriegsverbrechen. Alle Beteiligten des „Krieges gegen den Terror“, der vielmehr eine Terrorisierung des Krieges ist, betreiben eine manische Bilderproduktion, in „offiziellen“ und öffentlichen Zirkeln ebenso wie mit privaten Videokameras.

Auf ihrer Internetseite propagiert die „Islamic Army“ nicht nur den Kampf gegen den Amerika. Es wird ausdrücklich auch darauf hingewiesen, dass alle Gewalttaten gegen den Feind unbedingt gefilmt werden müssen, denn dies „terrorisiert die Feinde nah und fern“.

Zur gleichen Zeit strahlt „Channel Four“ in England eine Reality-Show mit dem Titel „Guantanamo Guidebook“ aus, wo sich Freiwillige einer demütigenden Gefangenschaft unterziehen, zum Vergnügen der Fernsehzuschauer. „Im Krieg gegen den Terror“, so erklärt die Redakteurin Dorothy Birne, „ist Folter eine entscheidende Waffe. Daher ist es für die Zuschauer wichtig, Formen und Bedingungen der Folter kennen zu lernen.“ Es gibt gleichsam keine Barrieren mehr zwischen Fiktion, Propaganda, Dokument, Information, Entertainment.

Wir können uns fragen, was wahrhaftiger ist – das im Subjekt-Populismus „gereinigte“ Bild oder das ordnungslose Schmutz-Bild. Und wir verstehen vielleicht auch, warum der große 9/11-Film nicht nur als mediales Denkmal ersehnt wird, sondern auch als Ordnungsfaktor im Chaos der frivolen Bilder. Eine Lösung ist in Sicht. Die Geschichte und das Bild sind, so scheint es, derzeit nicht mehr in ein Bild zu bringen.