Die Stillsteherin vom Ku’damm

Eine Begegnung mit der Extrem-Tardaistin Silke Sander und ihrem Mann Robert

„Ich bin langsam wie ’ne Schnecke auf Schlaftablette. Sonst bin ich ganz normal“

Viele Berlin-Touristen kennen sie. Ihr Arbeitsplatz ist der Ku’damm, unterhalb der Gedächtniskirche, am Breitscheidplatz. Dort steht sie stundenlang still. Wie die sprichwörtliche Salzsäule. In einer silbernen Rüstung. Verkleidet als Ritter. Wirft dann ein Passant ein Geldstück in den Helm vor ihr, bewegt sich die Stillsteherin, und langsam, ganz langsam schlägt sie ihn mit einem Schwert zum Ritter.

Silke Sander lässt sich jeden Morgen von ihrem Mann Robert mit silberner Farbe besprayen, um dann den Tag über starr dazustehen. Ihre Nichtbewegungen und ihre Bewegungen in Zeitlupe faszinieren die Menschen. Und doch wissen die meisten nicht, dass sie nicht spielt. Silke Sander leidet an Extrem-Tardaismus.

Professor Hartmut Ginster von der Berliner Charité hat das Phänomen der Tardaisten erforscht. Er kennt Silke von Kindesbeinen an. „‚Tardus‘ ist Latein und heißt langsam“, erklärt Professor Ginster. „Sie haben doch sicher auch jemanden in der Familie, der nicht der Schnellste ist. Der langsam spricht und agiert. Bei Extrem-Tardaisten müssen Sie sich diesen Zustand mit hundert potenziert vorstellen, allerdings bei hellwachem Verstand.“

Silke wirkt beinahe wie eine ganz normale junge Frau. Die jedoch sehr gemächlich ist, wenn sie ihre Rüstung abzulegen versucht. Ohne die Hilfe ihres Mannes Robert würde sie es wahrscheinlich erst in einigen Stunden geschafft haben. „Es …“ – 21, 22 – „… dauert …„ – 23, 24 – „… noch …“ – 25, 26 – „… einen …“ – 27, 28 – „… Moment“, sagt Silke, und ihre Sätze ziehen sich, so dass man sie dauernd vervollständigen möchte.

Alles an der 24-Jährigen ist über dem Durchschnitt. Sie ist hoch gewachsen, hat lange blonde Haare und auffällige Spinnenfinger. Feingliedrigkeit ist ein typisches Zeichen für Tardaismus. Jetzt lässt Silke sich ein Plastiktütchen anreichen und zieht etwas durch die Nase ein. Wenig später ändert sich alles. Silke Sander spricht im normalen Tempo und bewegt sich nicht mehr in Zeitlupe. „Was ist das?“, fragen wir sie erstaunt, und sie antwortet keck: „Ich verrate es nicht gern. Aber sonst dauert unser Gespräch ja drei Tage. Das ist Speed!“, blickt Silke uns herausfordernd an. Amphetamin, die Droge der Leistungsgesellschaft. Besorgt fragen wir sie: „Ist das nicht gefährlich?“ – „Für mich nicht, ich bekomme es sogar offiziell verordnet. Und es tut mir gut!“, meint Silke. „Astrein ist es zwar nicht, aber bevor mein Lebensmotto ‚Live slow, die young‘ heißt, drücke ich lieber ein bisschen auf die Tube.“

Professor Ginster ist Spezialist für extreme Randkrankheiten. Er behandelt zum Beispiel Nachinnenseher, deren Augen auch inwendig funktionieren, oder Langarmer, deren Gliedmaßen doppelt so lang sind wie bei gewöhnlichen Menschen. Und eben Extrem-Tardaisten wie Silke Sander. „Es ist ein genetisch-neurologischer Defekt“, erläutert Ginster den Tardaismus. Eine Heilungschance gebe es nicht, aber seine Patienten würden steinalt, wenn sie ihr Leben nach der Krankheit ausrichteten. „Tardaisten leben langsamer und deshalb meist auch länger als wir.“ Ginster hatte Silke damals geraten, ihre Krankheit zum Beruf zu machen. Also steht Silke heutzutage 8 Stunden am Tag am Ku’damm.

„Nein, ich bin kein Freak“, wehrt Silke die Frage nach der Besonderheit ihrer Persönlichkeit ab. „Ich bin langsam wie ’ne Schnecke auf Schlaftablette. Ein Beispiel: Der Weltrekord über 100 Meter liegt bei 10 Sekunden, ungefähr. Ich brauche für 100 Meter gute 16 Minuten. Sonst bin ich ganz normal.“

Das bestätigt auch Robert, ihr Mann. Silke und Robert haben sich in der Charité kennen gelernt. Robert ist Hauchatmer. Er zieht beim Atmen anscheinend nicht ausreichend Sauerstoff in die Lungen. Deshalb läuft er gelegentlich am ganzen Körper blau an, was gefährlicher aussieht, als es ist. Denn Robert wechselt nur die Farbe. Was ihm sogar einen gut bezahlten Job eingebracht hat. Er arbeitet im Theater am Potsdamer Platz bei der „Blue Man Group“. „Ich bin der Dritte von rechts“, lacht Robert.

„Na gut, das bisschen Speed ab und zu muss nicht sein“, bekennt Silke, die sich manchmal gefangen sieht zwischen Krankheit und Droge, aber sagt, dass sie nicht süchtig sei. „Wenn ich mithalten will in unserer schnelllebigen Zeit, kann ich nicht in Zeitlupe leben“, meint Silke. „Dabei sind die meisten Menschen viel zu ungeduldig. Das erlebe ich jeden Tag, wenn sie an mir vorbeihetzen. Dann beschimpfe ich sie manchmal innerlich: Du armes Rennschwein!“

Ihr Selbstbewusstsein ist kaum zu überbieten. Silke ist eben auch eine erfahrene Künstlerin, die sich auf der Straße und in Theatern auskennt. Sie ist stolz darauf, dass die Farbillustrierte Stern sie schon einmal porträtiert hat. Einen großen Traum hat sie jedoch noch. Sie möchte einmal im Leben zu den Olympischen Spielen. „Olympia, das wär’s …“ Ihre Augen leuchten. Bevor sich Silkes Rhythmus wieder verlangsamt, erzählt sie noch, dass die Extrem-Tardaisten gerade versuchen, vom IOC anerkannt zu werden, um an den Olympischen Spielen der Behinderten 2008 in Peking teilzunehmen. „Aber die wissen noch nicht, wie die Wettkämpfe gemessen werden sollen: Wer braucht am längsten über 1.000 Meter? Und Doping ist auch unter Tardaisten ein Problem.“

Vor allem aber scheint die Bewerbung selbst ein Problem zu sein, da die Tardaisten weit verstreut leben. Die Kommunikation untereinander ist nicht die schnellste. Viele Tardaisten brauchen ewig, um sich mit anderen zu verständigen. Weltweit gibt es derzeit nur 1.700 Extrem-Tardaisten, und Silke Sander ist eine von ihnen.

Jetzt erreicht sie gleich wieder ihr natürliches Zeitlupentempo. Vorher steigt sie auf ein kleines Podest und posiert als silberne Ritterin. Nun steht Silke still. Die Zuschauer sind begeistert und belohnen sie mit einem kräftigen Applaus. MICHAEL RINGEL