Bürgerkriegsszenario am Boulevard

Nach dem Schanzenfest und der Pokalpartie im benachbarten Millerntor-Stadion kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und Polizei. 37 Menschen landeten im Gewahrsam oder wurden vorläufig festgenommen

Laut Zeugen wurden den Gefangenen Masken und verdunkelte Brillen übergestülpt, damit sie die Orientierung verlieren

Es ist ein skurriles Bild, dass sich da im Schanzenviertel bietet. Die Tische der Kneipen des „Schulterblatt-Boulevard“ sind in dieser Spätsommernacht voll besetzt, es herrscht mediterrane Atmosphäre bei Cocktail, Bier und Wein.

Der Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite aber erinnert an ein Bürgerkriegsszenario: Monströse Wasserwerfer sind aufgefahren, direkt am Boulevard versperren Gitter und eine dichte Polizeikette Passanten den Weg. Nächtliche Heimkehrer müssen weite Umwege in Kauf nehmen, um nach Hause zu kommen, immer wieder werden Passanten unvermittelt von den Wasserwerfern ins Visier genommen. Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag, die Nacht nach dem Schanzenfest, die alljährliche Nacht der Scharmützel zwischen Punks und Autonomen mit der Polizei. Am Ende stehen 29 vorläufige Festnahmen und acht Ingewahrsamnahmen.

Das Schanzenviertel-Fest war zuvor friedlich verlaufen. 10.000 Besucher hatten sich tagsüber durch Schulterblatt, Susannen- und Bartelsstraße an rund 350 Anwohnerständen vorbeigedrängt, Trödel erstanden und Kebabs, Caipirinhas oder Crêpes konsumiert. Entgegen zuvor kursierenden Gerüchten hatte die Polizei nicht versucht, den Aufbau des unangemeldeten Fests zu verhindern.

Nach Einbruch der Dunkelheit aber ändert sich die Szenerie grundlegend. Nach Polizeiangaben wurden gegen 23 Uhr „von unbekannten Personen vor der Roten Flora diverse Kleinfeuer aus Unrat, Teilen von Bauzäunen und sonstigen brennbaren Gegenständen entzündet“ und Barrikaden errichtet.

Die Polizei, in dieser Nacht mit 1.000 Beamten zwischen Reeperbahn, Millerntor und Schanzenviertel im Einsatz, ist sofort massiv vor Ort. Schlagstöcke werden eingesetzt, Wasserwerfer verrichten ihr Geschäft, auf der anderen Seite werden Beamte mit Flaschen, die nach Polizeiangaben auch von Häuserdächern herunterflogen, attackiert.

Mehrere Menschen werden von der Polizei gefangen genommen, gefesselt und nach übereinstimmenden Zeugenaussagen mit über ihre Köpfe gestreiften Masken und sichtverdunkelnden Brillen orientierungslos gemacht. Sie werden nach Passanten-Berichten teilweise über eine Stunde so liegen gelassen, bevor sie eingesammelt und auf diverse Wachen verteilt werden.

Auch nachdem die Auseinandersetzungen beendet sind, bleiben Teile des Neuen Pferdemarkts und des Schulterblatts noch stundenlang abgesperrt – immer wieder kommt es zu wortreichen Auseinandersetzungen zwischen Beamten und Quartiersbewohnern, denen der Zugang zu ihren Wohnungen verwehrt wird, während die Wagen der Stadtreinigung im Polizeikessel den auf dem Schulterblatt aufgetürmten Unrat entfernen.

Einen gerade vom Bezirksamt am Eingang des Floraparks montierten Stahlpoller, der Fahrzeugen das Parken verwehren soll, lässt die Polizei absägen, um dort einen ihrer Wasserwerfer zu platzieren, der verhindern soll, dass Besucher einer Party in der Roten Flora ihr Ziel erreichen.

Kurz vor drei Uhr ist der Spuk vorbei. Das juristische Nachspiel der Schanzen-Scharmützel aber wird in den nächsten Tagen erst beginnen. MARCO CARINI