Fenster zu den Türmen

Seit 1995 fotografiert der Künstler Reiner Leist die tägliche Aussicht aus seinem Apartmentfenster in der 8th Avenue mit Blick auf die Südspitze von Manhattan

Lesbar wie ein Tagebuch ist die Installation „Window“ von Reiner Leist, die das Museum für Fotografie in Berlin zeigt. Aus seiner 18 Quadratmeter kleinen Wohnung im 26. Stock eines Gebäudes an der 8th Avenue in Manhattan dokumentiert der Fotograf seit dem 25. März 1995 seinen Blick aus dem Fenster in Richtung Südspitze Manhattans, wo bis zum 11. September 2001 die Twin Towers deutlich als höchste Gebäude zu sehen waren. Mit einer alten Plattenkamera, einer Art Laterna magica, fotografiert Leist an jedem Tag, an dem er in New York ist, wann immer er Zeit findet, zu jeder Tageszeit, Witterung, bei jedem Sonnenstand. Seit über elf Jahren führt Leist dieses Tagebuch mit inzwischen 2.200 Aufnahmen, das jetzt erstmals komplett zu sehen ist.

Extra für den Kaisersaal des Fotomuseums konzipierte er seine aufwendige Installation. Jedes Diapositiv steckt in einem Leuchtkasten aus Sperrholz, der nach hinten offen ist. Die Tage der Abwesenheit sind ebenfalls durch Boxen repräsentiert, die jeweils eine schwarze Fläche zeigen. Alle vier Seiten des Kaisersaals entlang zieht sich die Installation aus den aufeinandergestapelten Boxen. Von hinten wird die Installation mit Leuchtstoffröhren beleuchtet. Egal wo man in das Studium des „Tagebuchs“ einsteigt, unweigerlich wird man mit der Suche nach den zwei Türmen beginnen.

Die mörderischen Anschläge am 11. September 2001 wurden der „Koalition der Willigen“ zum Anlass zweier noch immer währender Kriege und haben sich somit auf die gesamte weltpolitische Lage ausgewirkt. Über die architektonische Konsequenz für Manhattan hinaus hat die Abwesenheit der Wahrzeichen ideologisch und emotional eine große Bedeutung. Dieses Wissen beherrscht die Installation und überlagert erst einmal alle anderen Deutungen.

Die Bilder von den in die Twin Towers eindringenden Flugzeugen und das Zusammensinken der Türme könnten die wichtigsten Bildikonen des 21. Jahrhunderts werden. Am 11. September 2001 aber war Reiner Leist nicht in New York. Sein Tagebuch verzeichnet erst wieder die Tage ab dem 12. September, noch viele Tage später ist allerdings dichter Rauch über Ground Zero erkennen. Auf den Nachtaufnahmen sind die Flugbahnen der Hubschrauber über der Baustelle zu sehen und im Jahr 2003 die nächtliche Lichtprojektion anstelle der Türme als temporäres Memorial.

Das zur Ausstellung erschienene Buch unterstreicht diese Bedeutungsebene zusätzlich. Gedruckt im Duotone-Verfahren, fasst das Buch die Septembermonate aller Jahre zusammen. Schafft man es, sich von der Wirkung des 9/11-Sogs frei zu machen, kann man sich den anderen Informationen und bestimmenden Bildebenen zuwenden. Jahres- und Tageszeit, Wetter (Smog), Blickwinkel, Belichtungszeit sind die bestimmenden Parameter der Bilder. Auf einigen Nachtbildern ist eine geschlossene und strahlend helle Mondbahn über der Stadt zu sehen. Hinzu kommt die völlig private Ebene ganz im Vordergrund der Bilder, die den Motiven eine besondere Poesie des Alltags hinzufügen. Mal sind die Konturen einer Obstschale im Vordergrund, mal eine Flasche. „Das hat sich eher zufällig ergeben, doch mit der Zeit habe ich diese Ebene auch mitgedacht, ohne jedoch den Tisch extra zu arrangieren“, gibt Leist auf Nachfragen an.

MATTHIAS REICHELT

Bis 7. Januar 2007, Katalog (Prestel Verlag) 69 €